Das Bett
schlechte Gewissen war für ihn schon seit langem nicht mehr als ein Zustand, der in Gemeinschaft mit dem morgendlichen Kater auftrat und zugleich mit diesem wieder verschwand. Seitdem er aus dem väterlichen Geschäft geflogen war, lebte er schlecht und recht in den Tag hinein, ohne noch groß Scham zu empfinden. Auch das heulende Elend, das ihn zuzeiten überkam, führte ihn nicht zur reuevollen Betrachtung seiner Lage, sondern war nichts anderes als das Gegenstück seiner alkoholischen Euphorie und gehörte wie sie in die Region des Rausches. Dennoch befielen ihn, etwa in dem Augenblick, als er Stephan draußen vorbeigehen sah, Sehnsüchte nach einem Leben, das er weggeworfen hatte, von dem er aber nach den ersten morgendlichen Schnäpsen glaubte, daß es ihm als Möglichkeit nach wie vor offenstehe. Seine aufdringlichen Reden richteten sich daher in Wahrheit gar nicht an Stephan, sondern sollten ihn selbst davon überzeugen, daß er noch Manns genug sei, sich seinen geachteten Platz im bürgerlichen Leben zurückzuerobern.
Im tiefsten seiner Seele war er dennoch mißtrauisch über die Wirkung, die er eben hervorgerufen hatte, und das nicht ohne Grund, denn selten war die Verwüstung seiner Person dermaßen sichtbar geworden wie in der Unterhaltung mit Stephan, in der er sich mit aller Kraft, die er aus seinen Schnäpsen schöpfte, |389| bemüht hatte, an die alten hoffnungsreichen Zeiten ihrer gemeinsamen Jugend anzuknüpfen. Gerade da, wo der Dinter, Heinz also versucht hatte, sich den Lebensgesetzen, die Stephan für ihn darstellte, wieder zu nähern, stieg die unübersteigbare Mauer vor ihm auf, die die Trunksüchtigen von den Menschen trennt, denen es geglückt ist, mäßig zu bleiben.
Stephan nahm nun, als Dr. Frey entspannter und gelöster zu sprechen begann, eben diese Mauer wieder wahr, die nicht nur die Schranke zwischen den Süchtigen und den Gesunden bildete, sondern die ganz allgemein die Glücklichen von den Unglücklichen scheidet und mit Strenge verhindert, daß die Bewohner dieser umgrenzten Reiche sich jemals auch nur ein Bild über die Zustände in dem anderen Bezirk machen können. Die Unglücklichen empfinden geradezu mit Selbsthaß ihren Makel, der sie aus den seligen Gefilden entfernt hat. Sie spüren, wie abstoßend sie wirken, und sie phantasieren sich über das Glück, das sie einmal besaßen und für immer verloren haben, das tollste Zeug zusammen. Die Glücklichen hingegen bemerken ihren Zustand nur an dem geheimen Grauen, das sie befällt, wenn sie einem Unglücklichen begegnen. Die Regungen des Mitleids, die sie aus solchem Anlaß verspüren, sind mit scheuen Opferhandlungen, an die höheren Mächte gerichtet, verbunden, die die Schatten verscheuchen sollen, welche die Erscheinung eines Unglücklichen an den stets hellblauen Horizont geworfen hat. Dr. Frey als Bittsteller zu sehen, den er mit einem Bündel Banknoten hätte abfinden können, wäre Stephan gerade noch erträglich gewesen. Den von hundert Bluthunden gehetzten Dr. Frey jedoch neben sich beim Weißwein plaudernd zu erleben, das war für Stephan nur noch Verkehrtheit, denn es ging gegen die Natur, die von Anbeginn der Welt auf Ordnung unter den Menschen gesehen hatte.
Die erste Möglichkeit seit langem, im heimatlichen Idiom mit einem Landsmann die schlimme Lage zu beraten, hatte Dr. Freys Vorsicht eingeschläfert. Auch hielt er wohl mit der Weißweinbestellung das Eis für gebrochen. »Bis jetzt habe ich mich hier vollkommen sicher gefühlt«, sagte Dr. Frey. »Ich habe |390| ja sogar auf französischer Seite gekämpft. Stellen Sie sich vor, ich habe hier sogar einen französischen Paß bekommen. Aber ich mußte dem Unterpräfekten versprechen, daß ich ihn bei Kriegsende zurückgebe. Und jetzt kommt das Böse, das gestern nacht passiert ist, und daran ist ausgerechnet dieser Paß schuld. Ich bin kurz nach Mitternacht geweckt worden und mußte zur Polizei. Dort waren noch eine ganze Reihe anderer ... zum Teil habe ich die noch nie gesehen – wo die sich wohl den ganzen Tag aufhalten? Narbonne ist doch nicht groß. Deshalb habe ich auch nie versucht, mich zu verstecken, man macht sich nur verdächtig, finden Sie nicht auch?« Stephan hoffte längst nichts anderes mehr, als daß diese Unterhaltung ein Ende fände. Er ahnte, daß er zum letztenmal in diesem Café gesessen hatte, das als Oase seiner Einsamkeit unwiederbringlich zerstört war. Er untersuchte nachdenklich den Inhalt seiner Brieftasche, die noch angenehm dick
Weitere Kostenlose Bücher