Das Bett
eine zeitliche Verschiebung des Unheils. Er war wie ein verzweifelter Wanderer in der Wüste, der seine letzte Energie darauf gewandt hat, eine steile Sanddüne zu erklimmen, um von dort aus Umschau halten zu können, und der vom Grat dieser Düne aus bis zum Horizont nichts anderes als ebensolche Dünen und dazwischenliegende tiefe Sandtäler wahrnimmt. Herr Dr. Frey hatte gelernt, mit dem Ohr auf der Schiene zu liegen, und er hatte dort ein unheilvolles Dröhnen vernommen, den noch körperlosen Vorboten einer neuen Gefahr für sein Leben. Nach Monaten eines entbehrungsreichen Friedens mehrten sich nun die Anzeichen der Bedrohung.
»Ich habe es hier ja noch gut«, flüsterte Dr. Frey und sah sich dabei nach der offenen Tür des Cafés um, als glaube er, einen zufälligen Lauscher durch die Bekundung von Dankbarkeit und Zufriedenheit zu besänftigen.
»Ich habe sogar ein kleines Zimmer! Ich gebe Nachhilfeunterricht, dreimal in der Woche, da gibt es jedesmal etwas zu essen. Ich bin auch sonst gefällig. Wenn mir einer sagt, ich möchte für ihn schnell irgendwohin springen, dann spring’ ich schnell. Die Leute können mich allmählich ganz gut leiden, denn sie sehen, daß ich arbeiten will, ich bettele ja nicht. Dies Département ist sowieso viel besser als Marseille. Und dann sag’ ich natürlich hier niemandem, daß ich ... was ich halt bin. Man will niemanden belasten.«
Die Unterbrechung des Satzflusses kam wieder durch Stephans Naserümpfen zustande, auf das Dr. Frey nach wie vor geschmeidig achtete. Das Thema Marseille wollte er Stephan dennoch |385| nicht ersparen. Er hoffte vielleicht auch, Stephan mit einer kenntnisreichen Warnung zu dienen, denn eines stand in diesen ungewissen Zeiten fest, daß es nämlich keine sicheren Zufluchtsorte und keine Papiere, die unverwundbar machten, für denjenigen gab, der es sich leistete, sich auf solche herausfordernden Privilegien hochmütig zu verlassen.
»Mein Vetter hat in Cannes gewohnt, ein wohlhabender Mann mit den besten Papieren«, sagte Dr. Frey, »aber der neue Präfekt hat gleich durchgegriffen dort. Ich habe etwas in der Richtung gehört und habe meinen Vetter noch gewarnt. Er ist geblieben, und jetzt haben sie ihn geholt, zum Arbeitseinsatz. Nein, hier muß man keine Angst haben, hier ist alles ruhig, es interessiert hier keinen, ob man ... wenn man sich vernünftig benimmt, was man da ist.«
»Wie hieß denn der Vetter?« fragte Stephan, um irgend etwas zu fragen; er vergaß dann auch den Namen, den Frey ihm nannte, auf der Stelle wieder. Frey hatte das Verschwinden dieses Verwandten offenbar hingenommen wie ein Naturereignis. Er grämte sich wohl nicht besonders, wahrscheinlich fehlte ihm vor allem die gelegentliche Unterstützung, die ihm der Mann zuteil werden ließ, solange er noch in Cannes lebte. Frey schien überzeugt, daß nur der das rettende Ziel erreichen werde, der nicht auf die rauchenden Stätten der Vernichtung zurückblickte. Er wurde durch diese Art der Darstellung für Stephan nebenbei allmählich etwas angenehmer. Das Unheil sah vorübergehend nicht mehr bedrückend aus und forderte auch nicht mehr den Protest, die Klage oder gar den Beistand dessen, der davon vernahm. In diesem Stadium ihrer Unterhaltung fragte Stephan, ob Frey nicht etwas zu trinken wünsche, er könne gut zu diesem kleinen Weißwein raten, der ihm nun schon wochenlang bekomme. Frey stand sofort auf, um die Bestellung nach drinnen zu tragen, als sei es in seiner Position nicht recht angebracht, den Kellner zu bemühen, der an einem der hinteren Tische über eine Suppe aus dicken Bohnen gebeugt saß, wie in den Rekonstruktionen der Ethnologen die ersten Menschen sich über das rohe Fleisch eines frisch gerissenen Stücks Wildbret neigen.
|386| Die Straße war um die Mittagsstunde ausgestorben. Die Fensterläden der Häuser waren zugeklappt, die Häuser sahen aus, als schliefen sie, und daran änderte auch nichts, daß Frey hinter jedem Laden einen Menschen vermutete, der durch die Ritzen die Straße im Auge behielt. Das Gefühl, allmählich bei Stephan an Boden gewonnen zu haben, berauschte Freys gesprächsentwöhnten Kopf. Als er vorsichtig mit zwei randvollen Gläsern aus dem Café trat, wirkte er fast heiter und so selbstverständlich wie ein liebenswürdiger Gastgeber. Er rückte nun auch den Stuhl herum, sah Stephan endlich voll ins Gesicht, hob das Glas zum Dank und begann wieder zu sprechen, mit anderer, mutigerer Stimme. Stephan dachte angestrengt darüber
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