Das Bienenmaedchen
wissen Sie über die Situation in Frankreich?«
»Meine Mutter und ich verfolgen sie genau. Wir haben die Nachricht bekommen, dass mein Großvater getötet wurde«, erklärte sie. »Über den Kanal hinweg ist es nicht weit. Die Nazis sind nicht weit entfernt. Manchmal liege ich nachts wach und denke daran, dass sie uns so nahe sind und wie wichtig es ist, dass wir diesen Krieg gewinnen.«
»Ganz Ihrer Meinung!«, sagte Mr Potter. Sie war sich bewusst, dass er sie so aufmerksam beobachtete, als sei sie ein interessantes Insekt. Nicht herzlos allerdings.
Schließlich kam er zum Ende seiner Befragung. Wie lange war sie schon hier? Eine Stunde, vielleicht länger. Und nun erkundigte er sich, ob sie irgendwelche Fragen hätte.
»Was wollen Sie von mir?«
»Ich habe mir gedacht, es könnte nützlich für uns sein, dass Sie Frankreich kennen und die Sprache beherrschen«, antwortete er. »Aber das ist mit einem gewissen Risiko verbunden.«
»Sprechen Sie von Spionage?«
»Nein«, erwiderte er. »Aber es erforderte ähnliche Fertigkeiten und eine ähnliche Ausbildung. Wir brauchen Leute, die wir nach Frankreich schicken können. Sie müssen die Sprache beherrschen und für den Feind unsichtbar sein. Leute, die den Krieg gegen den Feind im Inneren seines Lagers führen.« Mr Potter sprach ruhig und freundlich, doch der Nachdruck, den er seinen Worten verlieh, verbreitete Kälte.
»Wie würde meine Arbeit genau aussehen?«, fragte Beatrice.
»Vereinfacht ausgedrückt, versuchen wir, den Deutschen alles so schwer und unangenehm wie möglich zu machen. Das schließt ein, mit lokalen Gruppen der Résistance zusammenzuarbeiten und Sabotageakte gegen Kommunikationswege, Truppenzüge und Waffendepots durchzuführen. Es ist eine gefährliche Arbeit, und wenn man gefangen wird … Also, die Vergeltungsmaßnahmen können brutal sein.«
Beatrice war entsetzt und zugleich seltsam erregt.
»Wir finden, dass Frauen besonders gute Kuriere sind«, fuhr er fort. »Sie können sich freier in der Gegend bewegen, ohne Verdacht zu erregen.« Sie sprachen noch ein wenig darüber, was die Kuriere machten, und dann erklärte er: »Ich möchte, dass Sie nun gehen und über all das sehr ernsthaft nachdenken. Dann nehmen Sie Verbindung mit mir auf. Und natürlich muss auch ich – jetzt, nachdem ich Sie kennengelernt habe – über das nachdenken, was Sie über sich selbst gesagt haben.«
»Geht’s Ihnen gut, meine Liebe?«
Beatrice schaute benommen auf. Die Kellnerin war etwa in ihrem Alter, ein mageres, kleines Ding mit einem kleinen runden Gesicht und schiefen Vorderzähnen.
»Ihr Tee ist kalt geworden«, sagte das Mädchen, deren Augen voller Anteilnahme waren. »Sie sitzen hier schon seit Stunden. Ich dachte, es wäre vielleicht irgendwas nicht in Ordnung.«
»Nein«, erwiderte Beatrice. »Ich hab nur nachgedacht … Oh, ist es schon so spät?« Sie legte ein paar Münzen auf den Tisch und fühlte dabei den verwirrten Blick des Mädchens auf sich. Dann knöpfte sie ihre Jacke zu und eilte aus dem Café.
Den ganzen Rest des Tages schlenderte sie umher, ohne ihre Umgebung bewusst wahrzunehmen. Ihre Gedanken waren ein brodelndes Durcheinander. Sie stand unter Schock – das war es. Sie konnte kaum glauben, dass sie auf diese Weise ausgewählt worden war – herausgegriffen aus ihrem normalen Leben und in eine Parallelwelt versetzt. Wie war es dazu gekommen?, fragte sie sich. Wer oder was hatte die Aufmerksamkeit des rätselhaften E. Potter auf sie gelenkt? Ihre Gedanken führten sie unweigerlich zu demselben Punkt zurück: Es musste etwas mit Michael Wincanton zu tun haben. Und das zu akzeptieren, fiel ihr schwer. Michael wusste von ihrem Kind – er wusste es und hatte sie dennoch in diese schreckliche Zwickmühle gebracht. Denn es war eine Zwickmühle!
Sie musste sich der Tatsache stellen, dass sie es vorgezogen hatte, Mr Potter gegenüber nichts von ihrer Mutterschaft zu erwähnen. Warum nicht? Ihr Sohn war der offenkundige Grund dafür, weshalb sie die Aufgabe, die er ihr anbot, hätte ablehnen müssen. Doch sie hatte dem anderen Teil von ihr – dem, der keine Mutter war – gestattet, begeistert zuzuhören, als er die Arbeit seiner Abteilung beschrieb: eine geheime Arbeit, die ihre Agenten in das Herz der Gefahr hineinführte.
Als sie im Bus nach Camden saß, ließ der Schock allmählich nach. Das Bild ihres kleinen Sohnes erfüllte ihre Gedanken. Sie konnte ihn nicht verlassen, konnte sich nicht selbst in Gefahr bringen,
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