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Das Bienenmaedchen

Das Bienenmaedchen

Titel: Das Bienenmaedchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rachel Hore
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der mit seinem Löffel auf die Ablage seines Kinderhochstuhls schlug und bei dem Geräusch krähte und lachte. Mehrere Wochen. Wie konnte sie ihn so lange alleinlassen, wo sie ihn doch bisher erst ein Mal über Nacht abgegeben hatte – damals, als sie Angie im Krankenhaus besuchen musste? Sie steckte den Brief wieder in den Umschlag und warf ihn auf das Regal. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie sie diese Aufgabe bewältigen sollte. Im Laufe des Tages klärten sich ihre verwirrten Gedanken. Sie würde es tun müssen. Es war ihre Pflicht. Es wäre nicht für immer. Aber es war wichtig, dass sie bis dahin ihr Bestes für ihr Kind gab.
    Je länger sie darüber nachdachte, desto überzeugter war sie, dass Mrs Popham nicht die beste Person war, bei der sie den Kleinen lassen konnte. Diese Frau würde ihn schließlich nur widerwillig über Nacht bei sich behalten. Beatrice war etwas Besseres eingefallen.
    Nachdem er an diesem Abend eingeschlafen war, setzte sie sich an den Tisch und schrieb an Angie. Zwei Tage später traf die Antwort ein. Beatrice packte einen Koffer mit Kleidung, Spielzeug und der Lebensmittelkarte ihres Sohnes und fuhr mit ihm nach Sussex. Am nächsten Tag kehrte sie allein nach Hause zurück.
    Auf der Rückfahrt im Zug beugte sich die gut gekleidete ältere Dame, die Beatrice gegenübersaß, vor und ließ ein sauberes Taschentuch in ihren Schoß fallen, denn die Tränen strömten ihr ungehemmt übers Gesicht.

KAPITEL 26
    September 1942
    Es kam Beatrice vor, als hätte sie eine andere Welt betreten: eine Welt, in der ihr Sohn nach ein paar Tagen zu einer angenehmen Erinnerung in ihrem Gedächtnis verblasste. Er war immer da, und wenn sie an ihn dachte, war sie nicht traurig. Sie war nun nicht mehr Beatrice, sondern Simone. Wenn sie sich in dem schäbigen Landhaus in Surrey mit seinem weitläufigen Garten aufhielt oder durch die umliegenden Felder und Wälder lief, lernte sie, ein anderer Mensch zu sein: jemand, der kein Leben hatte außer dem, zu dem sie ausgebildet wurde. Sie war umgeben von Leuten, die sie nie wirklich kennenlernen würde und mit denen sie zusammenleben und arbeiten musste. Sie sprach französisch mit ihnen. Sie hatte fast vergessen, wie kompliziert diese Sprache sein konnte, und anfangs kam sie ihr nur schwerfällig über die Zunge. Sie musste mit den Leuten lachen, spielen und wetteifern, durfte jedoch nichts über sie erfragen und noch nicht einmal Freundschaft von ihnen erwarten. Sie teilte sich ein Zimmer mit drei anderen Frauen und lernte deren individuelle Gewohnheiten kennen – die Position, in der sie einschliefen, und was sie in ihren Träumen murmelten. Aber wie sie wirklich hießen, erfuhr sie nicht, auch nicht, was sie in ihren Herzen verborgen hielten. Es war ein bisschen wie im Internat, allerdings noch einsamer.
    Sie wusste, dass man sie beobachtete und dass ihre Gespräche mitgehört und notiert wurden. Sie wusste, dass sie in irgendeiner Form beurteilt wurde. Deshalb war sie immer auf der Hut, um sich selbst zu schützen, wie sie es von klein auf gelernt hatte. Die Wincantons waren gute Lehrmeister gewesen. Beatrice hatte gelernt, sich anzupassen, Spannungen aufzufangen, wenn sie darauf traf, loyal zu sein, wenig zu fordern und alles heiter zu ertragen. Aber zu ihrem Wesen gehörten auch Leidenschaft und Entschlossenheit. Die Pflicht war für sie mit Liebe vermischt. Die Beobachter konnten zwar die Geheimnisse ihres Herzens nicht erkennen, aber sie entdeckten rasch ihre Charakterstärke, ihre Wachsamkeit und ihre Urteilskraft. Und sie glaubte, dass die Betrachter davon angetan waren.
    Sie lernte Dinge, die sie begeisterten: wie man schoss, wie man sich geschickt fallen ließ, wie man Sprengstoff anbrachte, wie man mit Karte und Kompass oder, wenn nötig, auch mithilfe von Sonne und Sternen den Weg fand. Wie man codierte Botschaften per Funk sendete, wie man Spuren verfolgte und gleichzeitig die eigenen verwischte, wie man unbemerkt an jemandem vorbeiging und was man antwortete, wenn man verhört wurde.
    Als man ihr das erste Mal einen Revolver gab, wog sie sein kaltes Gewicht mit banger Ehrfurcht in der Hand. Sie hatte bisher nur ein einziges Mal eine Schusswaffe in der Hand gehalten: Rafes antike Pistole, an Weihnachten im Schlafzimmer in Geralds und Angies Cottage. Ihr Baby hatte geschlafen, und draußen hatte es geschneit. Damals hatte Beatrice einen Widerwillen verspürt. Und jetzt musste sie wegen einer der ironischen Wendungen des Lebens lernen, mit einer

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