Das Bienenmaedchen
konnten. Sie würde jemanden in einem Café in der Nähe des Bahnhofs treffen, mehr wusste Beatrice nicht. Dort würde sie Anweisungen bekommen, was sie als Nächstes tun und wohin sie gehen sollte.
Sie erfuhr nie, was schiefgelaufen war. Sie kam in Marseille an, fand das Café und wartete über eine Stunde, aber niemand kam. Sie dachte, sie hätte vielleicht am falschen Ort gewartet und versuchte es in einem anderen Café in der Straße, aber auch dort hatte sie kein Glück. Marseille war so weit südlich, wie sie ohne Unterstützung reisen konnte, und sie war allein. Sie stand da, starrte hinaus auf das Mittelmeer und fragte sich, was sie tun sollte.
Schließlich nahm sie sich in einer heruntergekommenen Pension in der Nähe des Hafens ein Zimmer. Es war eine raue Gegend, und nach Einbruch der Dunkelheit würde sie sich nicht mehr gern draußen aufhalten. Der Inhaber betrachtete sie lüstern, als sie die Formulare ausfüllte.
Als sie am nächsten Morgen die Treppe herunterkam, lungerte ein SS-Offizier in dem engen Flur herum. Er lehnte an der Theke der Rezeption und schwatzte mit dem Mann. Sie versuchte, mit gesenktem Blick vorbeizuschlüpfen, doch der SS-Mann packte sie am Arm, schwang sie herum und johlte: »Na, wen haben wir denn da?« Es war erst neun Uhr, doch sein Atem stank bereits nach Wein.
Zorn flammte in ihr auf. Sie riss sich los und rief: »Laissez-moi!«
Mit schwingenden Fäusten kam er auf sie zu, doch ihr Körper erinnerte sich daran, was zu tun war. In ihrem Kopf hörte sie die Stimme ihres Ausbilders: »Pack die Hand, bevor sie zuschlägt, dreh sie dem Gegner auf den Rücken und bring ihn zum Stolpern, sodass er nach hinten rüberfällt. Dann lauf, als ob der Teufel hinter dir her wäre!« Genau das tat sie und rannte los.
Sie riss die Tür auf und eilte hinaus auf die Straße. Ein Ruf hinter ihr. Sie wich seitwärts aus und rannte eine Gasse hinunter, als die Kugel das Fenster traf, an dem sie gerade vorbeigekommen war. Dann links hinunter hinter der Häuserzeile. Über eine Mauer in einen Hinterhof, durch den Hintereingang in eine Küche. Durch das Haus und zur Eingangstür hinaus, anschließend eine größere Straße hinunter. Hinter ihr die Geräusche des Verfolgers. Wild schaute sie sich um.
Ein sehr alter Mann kam auf sie zu. Er führte einen Esel, der einen kleinen Karren mit Abdeckplane zog. Der Mann hielt an, rief leise: »Ici, Mademoiselle!« , und hob die Plane an einer Ecke an.
»Merci« , keuchte sie und kletterte unter die Abdeckplane. Der Karren war leer, roch jedoch nach süßem Dung. Der Mann strich die Plane glatt, dann ruckte der Karren nach vorne, und der Esel ging weiter. Eine Zeitlang rollte der Karren langsam, aber stetig über Kopfsteinpflaster und bog dabei mal in die eine und mal in die andere Richtung ab. Beatrice blieb steif liegen und roch den vertrauten Duft von Pferden. Schließlich hielt der Karren an.
Als die Plane weggezogen wurde und sie sich aufsetzte, sah sie, dass sie das Ende eines Kais erreicht hatten, wo Dutzende kleiner Boote vertäut waren. Der alte Mann band den Wagen an einem Ring in der Steinmauer fest. Dann stieg er auf das Deck eines heruntergekommenen Frachtkahns und ließ den Motor an. Beatrice fragte sich, woher er den Treibstoff bekommen hatte. Anschließend kam er zum Kai zurück.
Fünf Minuten später hätte ein Beobachter am Meeresufer etwas Seltsames beobachten können: Ein schwarzer Lastkahn fuhr die Küste entlang in westlicher Richtung dem Sonnenuntergang entgegen. Auf dem Deck war deutlich die Gestalt eines Esels zu erkennen, die sich als Silhouette gegen den Himmel abzeichnete. Der alte Mann, der an der Ruderpinne saß, hätte irgendein alter Mann sein können, der im Krieg wie im Frieden seiner Beschäftigung nachging. Zwischen seinen Lippen steckte eine selbstgedrehte Zigarette, und seine Mütze hatte er sich bis über die Ohren gezogen. Beatrice jedoch sah nichts davon. Sie versteckte sich in der Kabine.
Die Reise endete in der Camargue, einer wilden, einsamen Landschaft. Land, Lagune und Meer vereinigten sich zu einer einzigen horizontalen Ebene. Hier wanderte Beatrice umher, eine schlanke, einsame, verlorene Gestalt, die darauf wartete, dass die Zeit verging. Manchmal, wenn sie die Natur beobachtete, stieg eine große Schar blasser Flamingos vom Wasser auf und flog am Himmel dahin, und ihr Herz erhob sich mit ihnen. Stierherden durchstreiften das Sumpfgebiet und ramsnasige weiße Pferde mit fließenden Mähnen – eine
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