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Das Bienenmaedchen

Das Bienenmaedchen

Titel: Das Bienenmaedchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rachel Hore
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ihr machen sollten. Der Gestapo-Offizier hatte recht gehabt: Man hatte sie vergessen. Es war der endgültige Verrat.
    Weihnachten kam und ging vorüber, und zum Ärger der Wärter sangen die Gefangenen hartnäckig Weihnachtslieder. Mit einem Gefühl der Verzweiflung notierte sie mit ihrem Bleistiftstummel das neue Jahr, 1944. Ende Februar spürte sie, dass die Nächte milder wurden.
    An einem Tag im März, als sie auf ihrem Bett lag, an nichts dachte und weder die Kraft noch den Willen hatte, sich zu bewegen, flog eine Biene durch ihre Zelle. Beatrice hob den Kopf und fragte sich, wie sie wohl hereingekommen war. Sie stellte fest, dass die Pappe vor dem Fenster verrutscht war. Die Biene kreiste ein paarmal durch den Raum, bis sie auf einem Lichtflecken an der Wand über dem Bett zur Ruhe kam.
    Beatrice setzte sich auf und beobachtete das Insekt dabei, wie es seine Flügel putzte. Es war eine Honigbiene mit Beuteln voller Nektar. Woher kam sie so früh im Jahr? Im September waren sie mit dem Bus, der sie zum Gefängnis brachte, an Obstgärten vorbeigekommen, in denen spätsommerliche Blumen blühten. Die Biene brachte die Erinnerung daran zurück. Beatrice dachte auch an die treue Biene im Wappen der Wincantons und an Oenones Versuche, sie selbst an die Familie zu binden. Beatrice glaubte, dass sie für Angelina ihr Bestes gegeben hatte. Ja, sie war auch eine solche treue Biene gewesen. Sie hatte sich anderen gegenüber loyal verhalten oder es zumindest versucht, so gut sie konnte. Rafe gegenüber, und als sie glaubte, dass sie ihn verloren hätte, war es Guy, dem sie treu gewesen war. Sie dachte an ihren Sohn. Wie wäre es gewesen, wenn sie ihn behalten und nicht fortgegeben hätte? Bestimmt waren einige Leute der Meinung, sie hätte ihn im Stich gelassen, als sie ihn zurückgelassen und sich zum Kriegsdienst verpflichtet hatte. »Wir alle müssen Opfer bringen«, hatte es überall geheißen – auf den Plakaten der Regierung, bei den Frauen, die mit ihren Essensgutscheinen anstanden, bei den Männern, die fortgingen, um zu kämpfen … Nur ihr kleiner Sohn würde es vielleicht nicht verstehen, sondern sich einfach verraten fühlen.
    Sie weinte nicht oft, weil sie befürchtete, dass man es als Schwäche auslegen könnte. Aber nun kamen die Tränen, und das Bild der kleinen Biene verschwamm. Und wenn sie ihr Kind nun niemals wiedersehen würde – oder Rafe oder ihre Familie? Nach dem ersten Verhör hatte der Gestapo-Offizier ihre Großmutter oder ihre Cousine nie mehr erwähnt, und Beatrice fragte sich, ob er gelogen hatte, ob sie immer noch sicher auf ihrem Bauernhof in der Normandie lebten.
    Die Biene flog wieder auf und suchte einen Weg nach draußen. Beatrice schob ihren Stuhl unter das Fenster und schob die Pappe beiseite. Nach einer Weile fand die Biene das Loch und flog hinaus.
    Beatrice ging zur Wand mit dem Kalender und machte einen weiteren Strich. Acht Monate war sie nun in Gefangenschaft. Doch sie wusste, dass die Gezeiten des Krieges unaufhaltsam wechselten. Im letzten September hatte sie bei den Übungen im Hof erfahren, dass Italien Deutschland den Krieg erklärt hatte. Im November war gemunkelt worden, die Sowjets hätten Kiew eingenommen, und nach Weihnachten, dass sie Leningrad befreit hatten. Unter den Gefangenen wuchsen die Aufregung und die Hoffnung.
    Jeder glaubte, dass eine Invasion der Alliierten in Europa nur eine Frage der Zeit sei. Und im April 1944 brachten die Besatzungstruppen in Frankreich die ersten gefangenen britischen Agenten in den Osten nach Deutschland.
    Es gab keine Vorwarnung. An einem Morgen im April ließ die Wärterin Beatrice nach dem Frühstück nur die Zeit, sich die Schuhe anzuziehen. Ein Wächter, der vor der Tür wartete, führte sie die Metalltreppe hinunter, durch die unterirdische Passage und in den Eingangsbereich. Dort standen schon einige andere Frauen, alle verstört und verängstigt.
    »Was geschieht jetzt?«, fragte eine dunkeläugige Frau mit sanftmütigem Gesicht, die Beatrice als Madeleine kannte. Sie waren sich öfter bei den Übungen im Hof begegnet.
    »Ich weiß es nicht«, flüsterte sie zurück.
    Der Wärter schob sie auseinander und bellte: »Nicht reden!«
    Draußen wurden sie in einen verbeulten Bus gepfercht und meilenweit durchs Land gefahren.
    »Wenigstens sind wir noch am Leben«, flüsterte sie Madeleine zu. »Vielleicht bringen sie uns in ein anderes Gefängnis.«
    »Mag sein. Vielleicht sind sie nervös. Die Invasion wird bald

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