Das Bienenmaedchen
anfangen.«
Der Bus hielt vor einem Bahnhof in einer kleinen Stadt, ein anderer Bus fuhr gerade weg. Auf dem Bahnsteig wurde eine Gruppe männlicher Gefangener, darunter einige Verwundete, von bewaffneten Polizisten in einen Zug hineingepfercht. Die Männer sahen ebenso abgerissen und ausgemergelt aus wie die gefangenen Frauen.
Während Beatrice versuchte, in dem Gewimmel ein bekanntes Gesicht zu entdecken, brach plötzlicher einer der Gefangenen aus der Gruppe aus und rannte den Bahnsteig entlang. Die Polizisten eröffnete das Feuer, aber der Mann sprang rasch auf das Gleis hinter dem Zug. Drei oder vier der Polizisten liefen los, um ihn zu verfolgen. Ein paar andere verstärkten ihre Bemühungen, die Gefangenen in den Zug zu schaffen.
Beatrice stand ganz hinten in ihrer Gruppe. Alles schaute dem Flüchtenden nach, der das Gleis entlangrannte, die Kugeln schickten hinter ihm Staubwolken in die Höhe.
Es traf sie wie ein Schlag. Niemand achtete auf sie! Eine Sekunde lang stand die Zeit still. Lautlos wie der Schatten eines Vogels schlich Beatrice zurück zum Eingang des Bahnhofs und wartete. Nichts geschah. Sie sah hinüber zum Schalter des Fahrkartenverkäufers und begegnete dem Blick des jungen Mannes, der dort saß. Die Angst schoss ihr wie ein Blitz durch den Körper. Doch dann gab er ihr ein Zeichen und verschwand. Eine Sekunde später öffnete sich die Tür zu seinem Büro, und er ließ sie hinein. Er schloss die Tür und zog ein paar Kartons unter einem Schreibtisch hervor. Sie kroch in das Loch, das auf diese Weise entstanden war, und legte sich bäuchlings hin, während er die Kartons an ihren alten Platz zurückstellte. Dann sah sie durch einen kleinen Spalt, wie er sich wieder auf seinen Hocker am Schalter setzte.
Draußen waren die Schüsse verstummt, doch der Tumult hielt an. Laute Rufe waren zu hören und eilige Stiefelschritte. Zugtüren wurden zugeschlagen. Ein Pfiff, ein zischendes Geräusch und das Rollen schwerer Räder. Der Zug tuckerte davon. Einen Augenblick später wurde ein Busmotor angelassen, und dann war es endlich vorbei. Beatrice fragte sich, was aus dem Flüchtling geworden war.
Der Fahrkartenverkäufer plauderte belangloses Zeug mit jemandem, der außerhalb ihrer Sicht war. Ein Eisenbahnbeamter betrat das Büro, gab ein paar Anweisungen über einen verspäteten Zug und ging wieder hinaus. Schließlich kehrte Ruhe ein. Der junge Mann kam zu ihr und räumte die Kartons wieder beiseite, sodass sie hinauskriechen konnte. An einem Haken hingen ein Frauenmantel und ein Kopftuch, und der Mann half Beatrice beim Anziehen. Sie war entsetzt, als sie flüchtig in einen kleinen Spiegel neben dem Haken schaute. Graue Haut, eingesunkene Augen, struppiges Haar. Sie schlang das viereckige Tuch um ihren Kopf und klappte den Kragen des Mantels hoch.
»Allez chez ma mère« , sagte der junge Mann und drückte ihr einen Papierfetzen in die Hand, auf dem er die Adresse seiner Mutter notiert hatte. Dann öffnete er die Tür, schaute sich um und gab ihr mit einer Geste zu verstehen, dass sie gehen konnte. Er war ein kleiner drahtiger Mann mit einem fröhlichen Gesicht, das von Aknenarben bedeckt war. Er sah ziemlich unscheinbar aus, doch Beatrice wusste, dass sie sich immer an ihn erinnern würde.
Als sie ihm danken wollte, zuckte nur mit den Schultern, als sei es nichts Besonderes gewesen, und machte die Tür hinter ihr zu.
Auf Zehenspitzen schlich Beatrice zum Eingang des Bahnhofs und spähte umher. Es war ein wunderbarer Frühlingstag und Mittagszeit, und kein Mensch war zu sehen. Die Sonne wärmte ihr Gesicht. Sie hatte keine Papiere und wusste nicht, wo sie war. Ihr einziger Anhaltspunkt dafür, was sie als Nächstes tun sollte, stand auf einem abgerissenen Stückchen Papier.
Aber sie lebte, und sie war frei!
Die Mutter des Fahrkartenverkäufers sprach genauso wenig wie ihr Sohn, doch sie glaubte Beatrice’ Geschichte sofort. Beatrice saß in einer einfachen Küche und aß zum ersten Mal seit Monaten frisches Brot und Butter. Ihr kamen fast die Tränen, wie gut das schmeckte. Dann sah sie zu, wie die Frau am Feuer eine Badewanne mit heißem Wasser aus einem Kupferkessel füllte. Während Beatrice ein Bad nahm, legte sie ihr ein paar Kleidungsstücke und Schuhe hin, die, wie sie erklärte, ihrer Tochter gehört hatten. Beatrice beobachtete, wie sie die schlichte Bluse und den Rock berührte. Was war wohl mit ihrer Tochter geschehen? Doch die Frau zählte nicht zu dem Typ Mensch, der zum
Weitere Kostenlose Bücher