Das Bienenmaedchen
schlichtere Version der edlen weißen Tiere ihrer Kindheitsträume.
Sie teilte sich eine einsame schilfgedeckte Hütte mit dem Bruder des alten Kahnführers und seiner Frau. Über der Tür gab es ein Paar Stierhörner, um böse Geister abzuwehren. Der Bruder ritt die wilden Pferde, und auch Beatrice lernte im Lauf des langen, feuchten Sommers allmählich, diese Tiere zu beherrschen. Sie hoffte, dass der Mann ihr irgendwann zutrauen würde, ihn zu begleiten, wenn er zwischen den Stieren hergaloppierte, obwohl das Männerarbeit war und er bei diesem Ansinnen nur die Stirn runzelte und den Kopf schüttelte. Seine Frau war zäh und von der Arbeit abgehärtet – sie musste es sein –, doch sanft genug zu dem englischen Mädchen. Sie schimpfte über die Narben, pflegte Beatrice gesund und stärkte sie mit schwerem Rindfleischeintopf und anderen fremden, cremigeren Delikatessen, die aus den Sümpfen und Teichen stammten.
Es kam Beatrice vor, als wäre der Krieg irgendwo weit, weit weg. Im Juni landeten die Alliierten in Nordfrankreich. Im Süden erhob sich der maquis . Im August kam die große Neuigkeit: die Befreiung von Paris.
Beatrice erwachte wie aus einem langen Traum. Ihre Rastlosigkeit nahm zu. Sie wusste, dass es so weit war: Sie musste dieses wilde Paradies verlassen, wo sie aus der Zeit gefallen war, und nach Hause gehen. Ihr Sohn wartete auf sie. Und vielleicht könnte sie herausfinden, was mit Rafe geschehen war.
Anfang September brachte der Mann mit dem Esel sie nach Marseille zurück, wo sie sich den neuen Behörden vorstellte. Die Nachricht, dass sie überlebt hatte, wurde nach London telegrafiert. In der dritten Septemberwoche 1944 stieg sie an Bord eines großen Kriegsschiffes, das überquoll von Matrosen, Soldaten und anderem Strandgut des Krieges wie sie selbst, und brach auf zu einer Fahrt durch das Mittelmeer nach England.
Um Spanien und Portugal ging es herum und dann die Westküste Frankreichs hoch. Die Reise dauerte länger als eine Woche, weil das Schiff überall anhielt, um Menschen aussteigen und andere an Bord gehen zu lassen – alle Welt war unterwegs. Dann endlich sah Beatrice vom Deck aus die Häuser von Southampton, die aus dem Herbstnebel auftauchten, um sogleich wieder hinter einem Tränenschleier zu verschwinden.
Dort am Kai wartete jemand, um sie abzuholen – Rafe!
Einen langen Moment standen sie einfach nur da und starrten sich gegenseitig an. Er sah noch schmaler aus, als sie ihn in Erinnerung hatte, aber diese schrecklich angespannte Miene war verschwunden. Das jungenhafteste aller Lächeln flog über sein Gesicht. Sie stolperte nach vorn in seine Arme, und dann klammerten sie sich fest aneinander.
»Ich hab gedacht, ich würde dich nie wiedersehen«, schluchzte sie in sein Ohr. »Ich dachte, du wärst vielleicht … Oh, vergiss es, du bist hier!«
»Ich konnte es kaum glauben, als sie mir erzählten, du seiest in Sicherheit«, murmelte er. »Oh Beatrice …«
Sie schob ihn ein wenig von sich fort und blickte sich um. »Wo ist Tommy? Wo ist mein Sohn?«
Warum war er nicht mitgekommen?
KAPITEL 33
Cornwall, 2011
»Sie hatten ihn nicht nach Southampton gebracht, Lucy«, sagte Beatrice mit leiser, zitternder Stimme. »Sie hätten mit ihm dort hinfahren können, um mich abzuholen, und sie haben es nicht getan. Sie wussten, dass ich nach Hause kommen würde. Miss Atkins hatte jeden angerufen …« Ihre Stimme verstummte, und sie schloss die Augen.
Lucy saß da, beobachtete sie und fragte sich, ob sie etwas sagen sollte. Tommy. Jetzt, wo Beatrice endlich seinen Namen ausgesprochen hatte, versank Lucy in einem Strudel von Emotionen.
Natürlich hatte sie gewusst, dass diese ganze Geschichte zu einem wichtigen Ende führen würde. Aber als es jetzt so weit war, wollte sie es nicht erfahren. Hatte sich ihr Vater davor gefürchtet, das aufzudecken? Obwohl er wusste, dass es irgendein Geheimnis gab, hatte er nur am Rande herumgesucht und sich bemüht, etwas über Rafe herauszufinden.
»Wo war Tommy, Beatrice? Ging es ihm gut?«
»Lass mich nur wieder zu Atem kommen, Liebes, und ich werde es dir erzählen.«
August 1943
»Er ist in Cornwall«, sagte Rafe. In seiner Stimme lag Unsicherheit, und Beatrice fixierte ihn unnachgiebig. Sein Gesicht war ernst und sein Blick nicht zu deuten. »Bea, es gibt viele Dinge, über die wir reden müssen.«
In diesem Augenblick sah sie eine Frau, die ruhig dastand und sie beide beobachtete, eine attraktive Frau in der gepflegten marineblauen
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