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Das Bild

Das Bild

Titel: Das Bild Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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sahen
unvorstellbar süß aus. Rosie lief das Wasser im Mund zusammen, wenn sie daran dachte, eine der Früchte aufzuheben und hineinzubeißen. Sie stellte sich vor, das Obst würde
sauer und süß zugleich schmecken, wie ein am frühen Morgen gepflückter Rharbarber oder wie Himbeeren an dem
Tag, bevor sie zu voller Reife gelangten. Noch während Rosie
den Baum betrachtete, fiel eine der Früchte (Rosie fand, sie
hatte ebensowenig Ähnlichkeit mit einem Granatapfel wie
eine Schreibtischschublade) von einem überladenen Ast, landete auf dem Boden, und zeigte zerplatzend ihr dunkelrotes
Fruchtfleisch. Sie konnte die vom tropfenden Saft umgebenen Samenkerne erkennen.
    Rosie machte einen Schritt auf den Baum zu und blieb stehen. Sie pendelte zwischen zwei Polen hin und her: ihrer
inneren Überzeugung, daß dies alles ein Traum sein mußte,
und der gleichermaßen nachdrücklichen Versicherung ihrer
äußeren Wahrnehmung, daß es keiner war, daß niemand auf
Erden jemals einen derart wirklichkeitsnahen Traum
erlebt
hatte. Im Augenblick schwenkte sie, wie eine Kompaßnadel
in einer Landschaft, wo es zu viele Mineralvorkommen gibt,
von Zweifeln geplagt wieder zur Traum-Hypothese zurück.
Links von dem Baum fand sich etwas, das Ähnlichkeit mit
einem U-Bahn-Eingang hatte. Breite weiße Stufen führten in
die Dunkelheit hinab. Über ihnen befand sich eine Säulenplatte aus Alabaster, in die ein einziges Wort eingraviert worden war: LABYRINTH.
    Das geht echt zu weit, dachte Rosie, ging aber trotzdem auf
den Baum zu. Wenn dies wirklich ein Traum war, konnte es
nicht schaden, Anweisungen zu befolgen; wenn sie das tat,
führte sie möglicherweise sogar den Augenblick schneller
herbei, wenn sie wieder in ihrem Bett aufwachen, nach dem
Wecker tasten und dessen selbstgefälligem Rasseln ein Ende
bereiten würde, bevor ihr der Schädel davon platzte. Wie
sehr sie diesmal sein Rasseln begrüßen würde! Sie fror, ihre
Füße waren schmutzig, sie war von einer Wurzel gepackt
und von einem Knaben aus Stein anzüglich begafft worden,
der in einer anständig eingerichteten Welt zu jung gewesen
wäre, auch nur zu wissen, was, zum Teufel, er da vor sich
sah. Am meisten aber spürte sie, daß sie eine ausgewachsene Erkältung, vielleicht sogar eine Bronchitis, bekommen
würde, wenn sie nicht bald wieder zurück in ihr Zimmer
kam. Damit hätte sich ihre Verabredung am Samstag erle digt, und sie würde obendrein die ganze nächste Woche
nicht im Aufnahmestudio arbeiten können.
    Rosie merkte nicht, wie absurd es war zu glauben, man
könne aufgrund eines im Traum unternommenen Ausflugs
krank werden, als sie sich dicht vor der heruntergefallenen
Frucht niederkniete. Sie betrachtete die Frucht gründlich
und fragte sich wieder, wie sie schmecken würde (mit nichts
vergleichbar, das man in der Obstabteilung des A & P finden
konnte, soviel stand fest), dann schlug sie einen Zipfel ihres
Nachthemds zurück. Sie riß noch einen Fetzen ab und wollte
sich ein quadratisches Stück verschaffen, was ihr besser als
erwartet gelang. Sie legte es hin, hob Samenkörner vom
Boden auf und legte jedes einzelne auf das Stück Stoff, in
dem sie sie mitnehmen wollte.
    Ein guter Plan, dachte sie. Wenn ich nur noch wüßte, warum ich sie mitnehme.
Ihre Fingerspitzen wurden sofort taub, als hätte sie eine
Novokainspritze in die Hand bekommen. Gleichzeitig stieg
ihr der köstlichste Duft in die Nase. Er war süß, aber nicht
blumig, und Rosie mußte an die Kuchen, Torten und Plätzchen denken, die aus Großmutters Ofen gekommen waren.
Aber ihr fiel noch etwas ein, das Lichtjahre von Oma Weeks’
Küche mit ihrem verblaßten Linoleumboden und den
Drucken von Currier & Ives entfernt war: was sie empfunden hatte, als Bills Hüfte auf dem Rückweg zum Corn Building ihre gestreift hatte.
Sie legte zwei Dutzend Kerne auf das Stück Stoff, zögerte,
zuckte die Achseln und fügte noch einmal zwei Dutzend
hinzu. Ob das ausreichen würde? Wie sollte sie das wissen,
wo sie doch nicht mal wußte, wozu sie dienten? Bis dahin
sollte sie sich besser beeilen. Sie konnte das Baby wieder
hören, aber seine Schreie waren jetzt kaum mehr als Wimmerlaute mit schwachem Echo - wie man sie von Babys
hörte, wenn sie bereit waren, endlich aufzugeben und einzuschlafen.
Sie legte den feuchten Stoff zusammen, dann steckte sie
die Ecken fest und machte ein Päckchen, das sie an die
Samentütchen erinnerte, die ihr Dad damals, als sie noch
regelmäßig die Sonntagsschule besuchte, in jedem

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