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Das Bild

Das Bild

Titel: Das Bild Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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Winter
von der Burpee Company bekommen hatte. Mittlerweile
hatte sich Rosie so an ihre Nacktheit gewöhnt, daß sie sich
nicht mehr schämte, sondern ihrer nur überdrüssig wurde:
Sie wollte eine Tasche. Wenn Wünsche Schweine wären,
wäre Speck immer im Sonderangebot.
    Der Teil von ihr, der praktisch und vernünftig war, merkte
einen Sekundenbruchteil, bevor sie ihre dunkelrot gefleckten
Finger in den Mund steckte, was sie vorhatte. Sie riß die Finger mit klopfendem Herzen zurück; der süße Kuchenduft
erfüllte ihren ganzen Kopf. Probier die Früchte nicht, hatte
»Wendy« zu ihr gesagt. Steck dir nicht mal die Hand in den
Mund, mit der du die Samen berührt hast!
Dieser Ort steckte voller Fallen.
    Sie richtete sich auf und betrachtete ihre fleckigen, kribbelnden Finger, als hätte sie sie noch nie gesehen. Sie wich
vor dem Baum zurück, der in seinem Kreis heruntergefalle ner Früchte und verstreuter Samenkerne stand.
    Es ist nicht der Baum der Erkenntnis, dachte Rosie. Es ist auch
nicht der Baum des Lebens. Ich glaube, dies ist der Baum des Todes.
Ein kleiner Windstoß blies an ihr vorbei, raschelte in den
langen, glänzenden Blättern des Granatapfelbaums und
schien ihren Namen hundertfach und sarkastisch flüsternd
zu raunen: Rosie-Rosie-Rosie!
Sie kniete sich wieder hin und wünschte sich grünes
Gras, aber es gab keins. Sie legte das Nachthemd mit dem
Stein darin weg, das kleine Samenpäckchen obendrauf, dann
riß sie händeweise das abgestorbene, nasse Gras aus. Sie
schrubbte die Hand, mit der sie die Kerne berührt hatte,
so gut es ging ab. Der dunkelrote Fleck verblaßte, verschwand aber nicht völlig, und die Substanz blieb unter
ihren Nägeln kleben. Wie ein Muttermal, das nie völlig ausbleichte. Derweil wurden die Schreie des Babys immer sporadischer.
»Okay«, murmelte Rosie bei sich und stand auf. »Sieh nur
zu, daß du dir deine verdammten Finger nicht in den Mund
steckst. Dann kann dir nichts passieren!«
Sie ging zu der Treppe, die unter dem weißen Stein hinabführte, und blieb einen Moment stehen, während ihr vor der
Dunkelheit graute und sie versuchte, genügend Mut aufzubringen, um ihr zu trotzen. Der Alabasterstein, in den das
Wort LABYRINTH gemeißelt war, kam ihr nicht mehr wie
eine Säulenplatte vor, sondern wie der Gedenkstein am Ende
eines schmalen, offenen Grabs.
Aber das Baby war da unten; es wimmerte wie alle Babys,
wenn niemand kommt, um sie zu trösten, und sie sich darangeben, es so gut sie können selbst zu erledigen. Dieser einsame, resignierte Laut war es, der sie schließlich aufrüttelte.
Kein Baby sollte sich an so einem dunklen und einsamen Ort
selbst in den Schlaf schreien müssen.
Rosie zählte die Stufen beim Hinuntergehen. Bei sieben
kam sie unter dem Überhang und dem Stein durch. Bei vierzehn sah sie über die Schulter zu dem weißen Rechteck aus
Licht, das sie hinter sich ließ, und als sie sich wieder nach
vorne drehte, schwebte dessen Umriß wie ein leuchtendes
Gespenst vor ihren Augen in der Dunkelheit. Sie ging immer
weiter hinunter, ihre bloßen Füße klatschten auf dem Stein.
Sie konnte das Entsetzen, das sie erfaßt hatte, mit Worten
nicht vertreiben, nicht einmal lindern. Wenn sie nur damit
leben konnte, wäre sie schon gut bedient.
Fünfzig Stufen. Fünfundsiebzig. Hundert. Bei hundertfünfundzwanzig blieb sie stehen, weil sie merkte, daß sie
wieder sehen konnte.
Du spinnst, dachte sie. Einbildung, Rosie, das ist alles.
Aber es war keine Einbildung. Sie hob langsam eine Hand
zum Gesic ht. Die Hand und das kleine Tütchen Samenkerne
glommen in einem düsteren, verhexten Grün. Sie hob die
andere Hand, mit der sie den in die Fetzen ihres Nachthemds
eingewickelten Stein hielt, direkt daneben. Tatsächlich, sie
konnte sehen. Sie drehte den Kopf erst in die eine, dann in die
andere Richtung. Die Wände der Treppenflucht leuchteten
schwach grün. Schwarze Umrisse stiegen auf und bewegten
sich träge darin, als wären die Wände in Wirklichkeit die
Glasscheiben eines Aquariums, in dem tote Wesen sich drehten und schwebten.
Hör auf, Rosie! Hör auf damit, so was zu denken!
Aber sie konnte nicht aufhören. Traum hin oder her, Panik
und ungeordneter Rückzug standen dicht bevor.
Dann sieh nicht hin!
Gute Idee. Großartige Idee. Rosie senkte den Blick zu den
vagen Röntgengespenstern ihrer eigenen Füße und stieg
weiter bergab, wobei sie nun flüsternd mitzählte. Das grüne
Licht wurde zunehmend heller, je tiefer sie kam, und als sie
bei

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