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Das Bild

Das Bild

Titel: Das Bild Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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Gefängnis, dessen Häftlinge alle gestorben sind. Die
Blumenbeete waren voll von abgefallenen Blüten, bei deren
Anblick Rosie in einer alptraumhaften Remineszenz daran
denken mußte, was sie gesehen hatte, als sie vier Wochen
nach der Beerdigung den Friedhof besuchte, wo ihre Familie
lag. Sie legte frische Blumen auf das Grab und ging zum hinteren Teil des Gottesackers, um sich zu sammeln, und fand
zu ihrem Entsetzen Halden verfaulender Blumen in der
Mulde zwischen der Mauer und dem Wäldchen hinter dem
Friedhof. Ihr Verwesungsgestank hatte sie daran erinnert,
was unter der Erde mit ihrer Mutter, ihrem Vater und ihrem
Bruder passierte. Wie sie sich veränderten.
Rosie wandte sich hastig von den Blumen ab, aber was sie
in dem todgeweihten Gemüsegarten sah, war auf den ersten
Blick auch nicht besser: eine der Reihen schien voller Blut zu
sein. Rosie wischte sich das Wasser aus den Augen, sah noch
mal hin und seufzte erleichtert. Kein Blut, sondern Tomaten.
Eine sechs Meter lange Reihe heruntergefallener, verrottender Tomaten.
Rosie.
Das war diesmal nicht der Tempel. Es war Normans
Stimme, direkt hinter ihr, und plötzlich fiel ihr auf, daß sie
Normans Kölnisch Wasser riechen konnte. Alle meine Männer
tragen English Leather, oder sie tragen gar nichts, dachte sie und
spürte, wie ihr eine eisige Hand über den Rücken strich.
Er stand hinter ihr.
Direkt hinter ihr.
Streckte die Hand nach ihr aus.
Nein, das glaube ich nicht. Das glaube ich nicht, selbst wenn ich
es glaube.
Das war selbstverständlich ein vollkommen blödsinniger
Gedanke, wahrscheinlich blöd genug, um wenigstens einen
kurzen Eintrag im Guinness Buch der Rekorde zu verdienen,
aber irgendwie gab er ihr Halt. Rosie ging langsam - wohl
wissend, daß sie wahrscheinlich völlig die Beherrschung
verlieren würde, wenn sie auch nur ein klein wenig schneller
lief - die drei Stufen hinunter (weitaus bescheidener als die
vor dem Eingang des Gebäudes) in die Überreste des Stiergartens hinab, wie sie ihn im Geiste getauft hatte. Der Regen
fiel immer noch, aber nur ein Nieselregen, und der Wind war
zu einem Flüstern abgeklungen. Rosie ging einen Gang
hinab, der von zwei Reihen brauner und schiefer Maisstauden gebildet wurde (auf gar keinen Fall würde sie barfuß
über die Tomaten laufen und spüren, wie sie unter ihren Fußsohlen zerplatzten), und lauschte dem steinigen Plätschern
eines Bachs in der Nähe. Das Geräusch wurde konstant lauter, je weiter sie kam, und als sie aus den Maispflanzen hervortrat, sah sie den Bach keine fünf Schritte entfernt. Der
Bach war rund zwei Meter breit und für gewöhnlich seicht,
dem flachen Ufer nach zu urteilen, jetzt aber nach dem Wolkenbruch angeschwollen. Nur die höchsten Stellen der vier
großen weißen Steine, die den Übergang bildeten, ragten
daraus hervor wie die ausgebleichten Panzer von Schildkröten.
Das Wasser des Bachs hatte eine undurchdringliche, pechschwarze Farbe. Sie ging langsam darauf zu und merkte
kaum, daß sie mit der freien Hand ihr Haar packte und das
Wasser herauspreßte. Als sie sich dem Bach näherte, nahm
sie einen eigentümlichen Mineralgeruch wahr, der von dem
Bach ausging, metallisch und doch seltsam anziehend. Plötzlich hatte sie Durst, großen Durst, ihr Hals war so ausgedörrt
wie ein Kamin.
Du darfst nicht davon trinken, so sehr du es auch möchtest. Du
darfst es nicht.
Ja, das hatte die Frau gesagt; sie hatte Rosie gesagt, wenn
sie auch nur einen Finger in dem Wasser naß machen würde,
vergäße sie alles, was sie jemals gewußt hatte. Sogar ihren
eigenen Namen. Aber wäre das wirklich so schlimm? Dachte
man eingehender darüber nach, war es wirklic h so schlimm,
besonders wenn sie unter anderem auch Norman vergessen
konnte, die Möglichkeit, daß er noch nicht mit ihr fertig war
und daß er ihretwegen einen Menschen getötet hatte?
Sie schluckte und hörte ein staubtrockenes Rascheln in der
Kehle. Wieder strich Rosie, ohne selbst richtig zu merken,
was sie tat, mit einer Hand an ihrem Oberkörper entlang,
über die Rundung ihrer Brust und am Hals hinauf, wobei sie
Feuchtigkeit sammelte, die sie von ihrer Handfläche leckte.
Das löschte ihren Durst allerdings nicht, sondern entfachte
ihn erst richtig. Das Wasser, das um die Steine herum floß,
schimmerte glänzend schwarz, und nun schien der auf
unheimliche Weise anziehende Mineralgeruch ihren ganzen
Kopf zu durchziehen. Sie wußte, wie das Wasser schmecken
würde - schal und zäh, wie kalter Sirup -, und wie es ihren
Bauch

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