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Das Bild

Das Bild

Titel: Das Bild Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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sie es nicht konnte). Wie Norman dich darum beneiden
würde.
Sie eilte an der Statue vorbei den Weg zu dem Hain abgestorbener Bäume entlang, und widerstand dem Wunsch,
über die Schulter zu sehen und sich zu vergewissern, daß die
Statue ihr nicht folgte, weil sie den steinernen Ständer zum
Einsatz bringen wollte. Sie wagte es nicht, hinzusehen. Sie
hatte Angst, ihr überstrapaziertes Gehirn könnte die Statue
sehen, auch wenn sie gar nicht da war.
Der Regen war zu einem zögernden Nieseln geworden,
und Rosie stellte plötzlich fest, daß sie das Baby nicht mehr
hören konnte. Vielleicht war es eingeschlafen. Vielleicht
hatte der Stier Erinyes es satt gehabt, sich das Geplärre
anzuhören, und hatte es verschlungen wie ein Appetithäppchen. Wie auch immer, wie sollte sie es finden, wenn es nicht
schrie?
Eins nach dem anderen, Rosie, murmelte Ms. Praktisch-Vernünftig.
»Du hast gut reden«, murrte Rosie.
Sie horchte weiter, wie das Regenwasser von den abgestorbenen Bäumen tropfte, und stellte - widerwillig - fest,
daß sie Gesichter in der Rinde sehen konnte. Es war nicht so,
als würde man auf dem Rücken liegen, Wolken betrachten
und die Phantasie neunzig Prozent der Arbeit machen lassen; es waren richtige Gesichter. Schreiende Gesichter. Für
Rosie sahen sie überwiegend wie die Gesichter von Frauen
aus. Frauen, mit denen jemand geredet hatte - aus der Nähe.
Als sie ein kleines Stück gegangen war, kam sie um eine
Biegung und mußte feststellen, daß der Weg von einem
Baum versperrt wurde, den offenbar auf dem Höhepunkt
des Sturms ein Blitz getroffen hatte. Eine Seite war gesplittert
und schwarz. Mehrere Zweige auf dieser Seite schwelten
noch verdrossen, wie die Asche eines nicht gründlich
gelöschten Lagerfeuers. Rosie hatte Angst davor, darüber zu
klettern; scharfe Kanten und Splitter und Dornen aus Holz
ragten überall auf dem gespaltenen Stamm auf.
Sie ging rechts um den Baum herum, wo die Wurzeln aus
dem Boden gerissen worden waren. Sie befand sich schon
fast wieder auf dem Weg, als eine der Wurzeln des Baums
plötzlich erbebte, zuckte und sich dann wie eine staubige
braune Schlange um ihren Oberschenkel schlang.
He, Baby! Willst du’s von hinten? Willst du’s von hinten
machen, du Nutte?
Die Stimme ertönte aus der bröckelnden, trockenen Erdhöhle, wo der Baum bis vor kurzem gestanden hatte. Die
Wurzel glitt höher an Rosies Oberschenkel hinauf.
Willst du’s mit allen Vieren auf den Boden, Rosie? Klingt das
nicht gut? Ich komme zur Hintertür rein, ich werde dich verschlingen wie ein getoastetes Käsesandwich. Oder würdest du lieber meinen Aids-kranken
»Laß mich los«, sagte Rosie leise und drückte das zusammengeknüllte Bündel ihres Nachthemds gegen die Wurzel,
die sie festhielt. Die Wurzel ließ sofort los und fiel von ihr
herunter. Rosie eilte vollends um den Baum herum und
wieder auf den Weg. Die Wurzel hatte so fest gedrückt, daß
ein roter Streifen auf Rosies Oberschenkel zurückblieb, doch
das Mal verblaßte zusehends. Sie nahm an, sie müßte nach
diesem Erlebnis Todesangst haben, möglicherweise wollte etwas, daß sie Todesangst hatte. Wenn ja, hatte es nicht funktioniert. Sie entschied, daß es sich, alles in allem, um ein
ziemlich banales Schreckenskabinett handelte
- für jemanden, der vierzehn Jahre lang mit Norman Daniels zusammengelebt hatte.
7
    Nach weiteren fünf Minuten erreichte sie das Ende des
Pfads. Dieser mündete in einer vollkommen kreisrunden
Lichtung, in deren Mitte das einzige Lebende inmitten dieser
Einöde stand. Es war der schönste Baum, den Rosie in ihrem
Leben gesehen hatte, und sie vergaß ein paar Sekunden
buchstäblich zu atmen. Damals, in Aubreyville, hatte sie
getreulich die Sonntagsschule der Methodistenkirche besucht, und nun fiel ihr die Geschichte von Adam und Eva im
Paradies ein, und sie dachte, wenn es wirklich einen Baum
der Erkenntnis von Gut und Böse gegeben hatte, dann mußte
er genau wie der hier ausgesehen haben.
    Er war üppig in lange, schmale Blätter polierten Grüns
gekleidet, und an seinen Ästen hingen überreichlich purpurrote Früchte. Das Fallobst um den Baum herum bildete einen dunkelroten Wall, dessen Farbe genau der des kurzen
Gewands der Frau entsprach, die Rosie nicht anzusehen
gewagt hatte. Viele heruntergefallene Früchte waren noch
frisch und prall;, wahrscheinlich hatte der Sturm, der gerade
weiterzog, sie von dem Baum geschüttelt. Aber selbst dieje nigen, deren Fäulnis schon weit fortgeschritten war,

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