Das blaue Buch - Roman
den Dingen beim Verletzen helfen sollte.
Ssschhh.
Er wartet, holt tief und schwer Luft, dann: »Ich hatte schon andere Bosnier, Kroaten oder Serben … natürlich – all diese Orte, irgendwann kriege ich sie, kriege die Trauer – aber ich war nicht auf dem Laufenden – vor allem, weil ich den Job gar nicht wollte und ihm nicht traute und ihn nicht mochte, darum hatte ich mich nicht vorbereitet. Ich hatte vor, ihn kein bisschen zu beeindrucken, aber dann ist er … da ist so ein … so ein ranziger Geschmack, der … der ist immer da – verdirbt sein Essen – ich kann ihn sehen an ihm – und er ist so wütend und so ängstlich und so angewidert von sich selbst, das lässt sich nicht berühren oder heilen, und … es kommt mir nicht unbekannt vor.« Er schließt die Augen, zeigt ihr deren Blau, als er sie wieder öffnet. »Und ich warf ihm diese drei Sätze hin – Banalitäten – und er machte auf – ließ alles raus. Ich saß bis zum Abend da fest. Diese Frau, die er gehasst und seit Jahren nicht gesehen hatte, aber er hatte herausgefunden, dass man sie aus ihrem Haus in Donji Grad verschleppt hatte – daran erinnere ich mich, du weißt ja, an so was erinnere ich mich, mein Hirn hält Einzelheiten fest – und sie wurde in dem Vergewaltigungslager in Doboj festgehalten, in der Bosanka-Fabrik. Der Rest erklärt sich von selbst. Und lebt in seiner Wohnung … Sie hieß Merima …« Art runzelt die Stirn, wirkt abwesend oder verloren.
Also zieht sie ihn an sich, mit ihr herunter, bis sie beide wieder liegen, aber er dreht sich auf den Rücken und schaut an die Decke. »Ich war wieder zu Hause und war ihn, war die ganze Sache bis zum Ende der Woche los – auf der Insel. Am ersten Tag dort bin ich über den Grat, über La Coupée gegangen, immer weiter und dann in den Pott – das ist so eine winzige, abgeschlossene Bucht, und sie gehört mir – es ist meine. Den ganzen Weg dahin war das Meer an den Klippen unnatürlich – stiller als still, so flach, dass man die Maserung des Wassers sehen konnte, seine wahre Natur – wie ein Achat, so viele Blaus, und jedes Boot, das darüber fuhr, hinterließ eine Fährte, eine Spur wie ein Finger auf Glas. Du konntest genau sehen, wo sie überall gewesen waren – wie hingeschrieben, so dass du es lesen konntest.
Aber du warst nicht da, Beth. Und ich habe mich in die Bucht herunter gelassen – die hat so hohe, dicke Wände – und bin dann durch das neue Tor hinaus – ich nenne es das neue Tor. Da war früher mal ein einziger Tunnel, durch den man raus kam, aber seit ich klein war, hat sich noch ein weiterer Eingang aufgetan. Ein weiterer Einbruch. Es war Springtide, sehr niedriges Niedrigwasser, und ich stand noch auf dem Trockenen, wo eigentlich schon ein halber Meter Wasser hätte sein sollen, weit draußen zwischen Sachen, die ich nie berühren sollte. Es sollte nicht möglich sein …«
Es ist keine besondere Veränderung in seiner Lage, in seiner Stimme, nur das Wissen, dass er irgendwo zerbricht und es ihm inzwischen egal ist. Er wird vor ihr in Stücke gehen und erwartet, dass sie ihn schonend behandelt.
»Und die Raben beschweren sich – ein Pärchen nistet in der Nähe, die sind aufgeflogen und schreien, grollen – die Sonne versilbert ihnen den Rücken, und ich will sie nicht beunruhigen, sie sind meine Lieblingsvögel – nicht weil sie Unterweltvögel sind, irgendwas mit anderen Dimensionen – nein, weil sie klug sind, wie kleine, fliegende Menschen – sie machen sich genau solche Sorgen wie Menschen, also setze ich mich – und als sie sich beruhigen und aufhören zu reden – sie reden beinahe – da höre ich sie fliegen. Es ist so still, dass ich die Luft durch diese Finger am Ende der Flügel sausen höre. Ich bin auf meinen besten Felsen gestiegen und habe mich hingesetzt, und sie haben sich ebenfalls niedergelassen – sind gelandet und haben sich noch ein bisschen angemaunzt, aber jetzt sind sie zufrieden, und das einzig übrige Geräusch ist in meinem Kopf. Es ist ein unmöglich wundervoller Morgen. Und du bist nicht da. Du bist nicht neben mir und sagst nicht, wie heiß die Steine sind, oder schaust dir das Glitzern im Quarz an, oder … und warum solltest du auch … Du hattest keinen Grund, dort zu sein.«
Sie hat ihn nie weinen sehen, nicht in über zwanzig Jahren – bei all den aus zwanzig Jahren herausgestohlenen Gelegenheiten.
Aber heute weint er. »Und es geht um dich, aber auch um sie, und … sie war so traurig … Meine
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