Das blaue Buch - Roman
Frühmorgenstimme, seiner ungeschützten Stimme: »Und das ist es: Du bist viel schöner, als du irgendwen wissen lässt.« Er drückt seine Hand um ihre Finger. »Aber ich habe dich durchschaut.« Und er schaut ihr direkt und einfach in die Augen.
Ssschhh.
Und sie ist es, die sich aufrichtet und quer durch den Raum ins Nichts starrt, auf eine gefühllose Wand. »Nein.« Während sie denkt, dass sie diesen Nachmittag aufheben will, ihn zu einer Schleife formen und darin bleiben, niemals fortschreiten zu dem, was als nächstes kommt. »Das Geheimnis ist, dass du keine Ahnung hast, wie ich die übrige Zeit bin. Du siehst mich immer nur, wenn ich bei dir bin.«
»Nein – «
»Doch. Und oft war ich gar nicht … aber ich bin so gewesen, wie ich konnte … ich meine, ich bin anderswo hässlicher gewesen.«
»Und ich kann anderswo nur hässlich sein.« Er richtet sich im schönen Chaos ihres Bettes auf. »Entschuldige. Das ist … Das ist jetzt wirklich nicht romantisch … Es ist nur – in Pimlico habe ich gar nichts gefühlt . Bei dir fühle ich. Bei dir fühle ich immer … es war nicht immer …« Er wählt den diplomatischen Weg, höflich wie ein Fremder. »Es stand immer ein Gefühl zur Verfügung, auch wenn es nicht immer ein positives war. Aber da, da war nichts. Für meine Mutter .« Er spricht das Wort aus, als stammte es aus einer anderen Sprache: einem fremden, anstrengenden Land. »Überhaupt nichts, bis ich – tut mir leid, dass … aber ich war der Arbeit wegen nach London gekommen …«
»Du musst dich nicht dauernd entschuldigen.«
Er zuckt mit dem Kopf, widerspricht aber nicht. »Jedenfalls. So ein Typ war an meine Nummer gekommen – ich weiß immer noch nicht, wie – und irgendwie wollte er mich nicht haben, aber irgendwie doch.« Art nimmt wieder ihre Hand, behält sie. »Er hieß angeblich Drazan … keine Ahnung, ob das stimmte – schien nicht so – und er erzählte mir die ganze Zeit, er hätte einen Geist. Was genau ich gegen einen Geist unternehmen soll, kann ich mir nicht vorstellen … mit einer Bibel wedeln … Solches Zeug mache ich nicht. Sein Geist wohnte in seiner Wohnung in der Talbot Road – hat nichts kaputtgemacht, keine Gegenstände bewegt, ist nicht erschienen – er wusste einfach, dass er da war – und seine Freundin hatte ihn deswegen verlassen … Natürlich … Ich hatte eigentlich überhaupt keine Lust darauf, aber ich war sowieso in der Stadt, also … Wir treffen uns in einem Pub gegenüber seiner Wohnung, und er fängt sofort an, mich zu verarschen. Es ist ruhig im Pub, noch früh – riecht nach Desinfektionsmittel und der Pisse von letzter Nacht – und er verarscht mich darin, kichert beinahe, redet Scheiße, sehr nervig, eindeutig ein Wichser … aber ich weiß auch … ich weiß es … er hat wirklich einen Geist. Er erzählt es mir, aber erzählt es mir auch nicht, und er muss es mir auch nicht erzählen, denn ich sehe sein Gesicht – und was es sagt – denn ich habe das gleiche Gesicht – sein Geist ist kein Kind, kein Mann, nicht seine Schwester, keine Geliebte, kein Freund – es ist seine Mutter. Seine Mum. Ich weiß, wie ein schlechter Sohn aussieht.« Arts Daumen klimpert unruhig auf ihren Fingerknöcheln herum, hin und her. »Er konnte sie nicht leiden, und dann ist etwas passiert, und eigentlich tut es ihm nicht leid, allerdings doch – er weiß nämlich, was passiert ist, was sie umgebracht hat – er braucht mich nicht, es ihm zu sagen, er will nicht, dass ich es ihm sage, weil es eine Schande war – so schlimm, dass er meint, es sei auch für ihn eine Schande. Ein narzisstisches Arschloch. So wie ich … Er hielt mich bis zum Mittag dort fest, bis der Laden voll mit Kundschaft war – nicht unsere Sorte Kundschaft, bloß … Kneipenkundschaft. Schließlich habe ich einfach gesagt: ›Es ist Ihre Mutter. Man hätte ihr das nicht antun dürfen. Es war falsch, absolut falsch.‹ Mehr habe ich nicht gesagt.« Die Färbung seines professionellen Tonfalls, voll sanfter Autorität – die wirksamste Mischung – ein Aufblitzen dessen, wozu er sich machen kann – und dann ist es wieder weg, und er ist nur noch Art, die Bettdecke um die Hüften geknüllt, schmale Schultern, die langen Arme und ihre Empfindlichkeiten, ihre Spannungen.
Wärst du nicht vernünftig, würdest du ihn nicht genau genug betrachten, könnte er dir schwach erscheinen. Ist er aber nie. Dinge verletzen ihn, weil er es zulässt, weil er es so will.
Das heißt nicht, dass ich
Weitere Kostenlose Bücher