Das blaue Buch - Roman
das nicht stimmte.
Wenn Beth erwachsen ist, voll mit PIN-Nummern und Passworten und Informationen und Erinnerungen und Vorlieben und Zweifeln, dann wird sie nicht oft darüber nachdenken, wie ängstlich sie in dem Badezimmer war oder wie sie gesehen hat, was nicht da war, um ihren Schrecken zu erklären. Sie hat einen Geist heraufbeschworen: ihres Vaters Hand, aber nicht die ihres Vaters: so, wie er wäre, wenn er anders wäre, falsch anders, und von woanders her die Hand hereinstreckte. Und sie wird sich auch nicht speziell daran erinnern, wie sie auf weitere Schocks gehofft hatte, weitere Stürze ins Seltsame, die nicht kamen – oder wie ihr Vater ihr einen Gutenachtkuss gegeben hatte – klingt anders als die Küsse, die er ihrer Mutter gibt – und wie sie sich herumdrehte, während sein Gewicht auf der Matratzenkante blieb, sie bewachte, die Decke spannte.
Es wird Jahre dauern, bis sie eines Tages aus heiterem Himmel denkt: Natürlich – der Sicherungskasten war im Schrank direkt neben dem Bad. Er hat einfach die Sicherung herausgedreht. Gar nichts dabei. Ich wette, das hatte er schon Jahre geplant, hat gewartet, bis ich alt genug war, beeindruckt zu sein, oder erfreut, oder irgendwas – jedenfalls nicht auszurasten. Und ich habe ihn enttäuscht. Ich habe seinen Trick viel besser und viel schlimmer gemacht. Ich habe davon einen Appetit entstehen lassen.
Als sie auf der albernen Kiste steht – gerade überm Rand der zehn Jahre – weiß sie nichts von ihrem erwachsenen Ich: Die Mühen und Linien und Vorlieben dessen, was sie sein wird, lagern sich wie Sedimente still dort ab, wo sie es nicht sehen kann – später wird es Brüche geben, außerordentliche Hitzewellen und Verwandlungen, doch im Moment interessiert sie das nicht, kann sie nichts davon vorhersagen. Sie ist einfach unglücklich und froh, dass ihre Freunde nicht hier sind. Sie hat sie die Anzugmänner nie sehen lassen, auch nicht ihre Arbeit, die sich durch den Raum bewegt wie eine Reihe Blasen, Wärmeblasen, die auf sie zukräuseln und sie nervös machen. Wenn sie ganz ehrlich sprechen sollte, würde sie sagen, dass die Männer sie verärgern, weil das, was sie tun, noch so nah am Angenehmen, am fast Angemessenen ist, dass es sie wieder zurückwerfen könnte ins Kleinkindalter. Wenn sie erst älter ist, kann sie es in eine Reihe wohlmeinender Täuschungen zerlegen: Einlegen, Ablegen, Passage, Handfläche, Richtungstäuschung – eine eigenartige Liebesbezeugung. Im Augenblick wirkt es verlockend, anziehend, dass irgendwie – von Hand zu Hand und Mann zu Mann – Absichten auf sie zukommen, auf unerklärte Weise; doch meist fühlt sie sich ausgeschlossen und nicht clever genug.
Allmählich wird sie sich an dieses Gefühl gewöhnen. Als sie eine ernsthafte und lernwillige Teenagerin ist, jolly good , da nerven sie Schulpartys. Discos machen ihr Sorgen – und die Direktorin besteht darauf, sie Diskotheken zu nennen, was kompliziert und halb französisch und halbseiden klingt – und in Clubs zu gehen ist noch schlimmer. Küsse – die guten alten harmlosen Küsse – werden plötzlich neu definiert, die Zunge kommt ins Spiel, und auch das klingt kompliziert und halbseiden. Beth wird entdecken, dass hässliche Jungen, die sie gar nicht mag – und es gibt nur sehr wenige Jungen, die sie mag, sie hat bereits einen sehr anspruchsvollen Geschmack – dass irgendwelche Jungen sie dennoch entflammen und verstören können durch das, was sie anstellen mit ihren hastigen, mutigen, fahrigen Küssen, wie sie ihren Körper ansprechen, wie sie Stellen erwecken, die sie die Jungen nicht sehen lässt, wie sie Veränderungen bewirken, Übertragungszauber, sie haben plumpe, aber wirksame Hände. Jungen erschrecken sie zuerst zu sehr, oder machen ihr Angst vor ihr selbst – sie erwirbt den Ruf, aufzureizen und dann zu flüchten, wegzurennen.
Und die Männer in den schwarzen Anzügen legen den Grund dafür: ihre Verwirrung, ihr Widerwillen, ihre flüchtende Natur. Sie starren sie an, während sie auf ihrer Kiste herausragt, und wer ihr gerade am nächsten steht, zieht ihr Geschenke aus den Haaren oder lässt sie – weich wie Flüstern, wie Küsse, wie Lippen – in die Taschen ihres Kleides gleiten, oder steckt Geld in die Luft um ihren Vater, so dass er es herausgreifen und ihr dann überreichen kann.
Sie tun ihr Bestes.
Aber sie belästigen auch, sie erregen unangenehmes Aufsehen mit ihr, und sie wünscht, das würden sie nicht tun.
Beth legt doch Wert
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