Das blaue Buch - Roman
auf ihre Privatsphäre.
Nein, sie liebt ihre Privatsphäre.
Sie will Riegel.
Sie will Kisten, die sich öffnen und alles verschlucken, alles verstecken, sich schließen, verschließen, und dann so unschuldig und tragbar wirken wie vorher. Sie möchte sicher in der blauen Kiste mit den silbernen Sternen stecken, die hübscher anzustarren wäre als sie selbst, und friedlich.
Und sie glaubt, es sei gut, wenn sie ihre Freude in Kisten packen, kontrollieren könne – ihr Geburtstagsgeld wird sie nie wieder mehr aufregen können als Schnee oder Wünsche oder das Meer oder Früchte, die auf Bäumen wachsen – einfach wachsen, direkt aus den Bäumen heraus, oder gar aus kleinen Büschen – oder mehr als Eiscreme mit Stücken darin, oder große Hunde – keines von diesen Dingen wird sie mehr zum Lachen bringen können, oder zum Jubeln, oder zum Rennen, um es zu verbrennen: so viel Wunder der Wirklichkeit, erwartete Freuden, Steigerung der Genüsse.
In Kürze wird ihre Mutter mit dem Geburtstagskuchen hereinkommen – der wird groß sein, mit Orinoco Womble in farbigem Zuckerguss daraufgemalt, und Happy Birthday – und es wird noch mehr gesungen werden, und ihr Vater wird seine Kamera – die Polaroid Square Shooter heißt – vom Tisch an der Tür holen und sie fotografieren, und alle werden zuschauen, während das Bild sich entwickelt – denn im Jahr 1976 sind selbst< entwickelnde Bilder noch etwas Aufregendes. Sie werden zusehen, wie sie aus dem Nichts hervorgezaubert wird, und sie muss nicht mal mitmachen.
Beth wird das Foto mit einer Reihe weiterer Bilder in einer Kiste unter ihrem Bett aufbewahren – unter ihren verschiedenen zukünftigen Betten. Irgendwann wird sie, wenn sie das Foto anschaut, einen farbenprächtigen Kuchen sehen, verschwundene Gesichter, ein Register toter Gesichter – ihre Mutter leicht verschwommen, aber lächelnd in ihrem malvenfarbenen Paisleymuster-Kleid, die Haut warm von den brennenden Kerzen – ihr Vater nicht da, schon nicht mehr da, aber nur, weil er die Kamera hält, den Bildausschnitt leicht nach links unten neigt, was seine Angewohnheit war, ganz typisch, und sie seine Finger spüren lässt, die immer noch alles an den Rändern halten. Und sie wird das Einströmen von Schweigen sehen, und ein kleines Mädchen, das schmollte und die Stirn runzelte: das Unrecht hatte – kontrollierte Freuden sind gar keine Freuden, darum sind sie so schrecklich.
»WOLKENBEEREN.«
»Verzeihung, was haben Sie gesagt?« Beth sitzt und blickt stirnrunzelnd zu einem großen, nervösen Mann in graumelierter Jacke und schlechten Schuhen auf. Er steht neben ihr, jemand, den sie noch nie zuvor gesehen hat.
Es ist 1989 und nicht Beths Geburtstag; dicht dran, aber das hier ist bloß eine Party – eine von ihr selbst veranstaltete in ihrer eigenen Wohnung. Oder jedenfalls in der Wohnung, die sie sich mit zwei anderen Studentinnen teilt, die beide eher langweilig sind. Sie hat sie wegen ihrer Fadheit ausgesucht – die unengagierte Sarah und die uninteressante Elaine. Sie möchte promovieren – was ihren Vater freuen würde: Sie muss ihrem Vater keine Freude machen, aber sie würde gern – und Sarah und Elaine werden sie nicht ablenken. Sie hat schon in Wohngemeinschaften gelebt, hat die schreienden Partner und seltsamen Zwänge und traurigen Teints und willkürlichen seelischen Zusammenbrüche zu vieler Fremder und Bekannter und ganz eindeutig verflossener Freundinnen erlebt, um sich dem noch einmal auszusetzen. Sie hat auch vom Studentendasein genug: von Kneipenjobs und Kellnerinnenjobs und Telemarketingjobs, vom Lernen der Zahlen und Wörter eines scheinbar sinnlosen Spiels. Es fühlt sich nicht so an, wie sie erhofft hatte: wie das Aneignen von Geheimnissen, wie Aufklärung. Und sie ist älter: so ein trauriger Fall, den der Campus nicht loswird, denn wo sollte sie sonst hin? Mit Elaine und Sarah hat sie immerhin Ruhe und Frieden – selbst wenn sie beide explodieren, in Flammen aufgehen würden, wären sie doch entschlossen unfähig, Aufsehen zu erregen.
»Ich sagte Wolkenbeeren .«
Beth hockt am oberen Ende der Treppe, inmitten der dämmrigen Stille des Treppenabsatzes – hier oben brennt kein Licht, die Gäste sind gehalten, unten zu bleiben, sich anständig zu verhalten, nicht hoch zu schleichen und heimlich in oder auf anderer Leute Betten zu vögeln. Der Mann muss geräuschlos hinter ihr den Absatz überquert haben und ist ein Eindringling, wenn auch in einem minderschweren Fall. Die
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