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Das blaue Buch - Roman

Das blaue Buch - Roman

Titel: Das blaue Buch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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fand sie es toll. Sie wollte mehr.
    »Idiot.« Die Stimme ihrer Mutter wütend und leicht amüsiert, was verwirrend war, aber auch vertraut, und damit zusammenhing, wie ihre Eltern waren.
    Wegen ihrer Eltern wird Beth Streit nie richtig verstehen – weil die ersten Streite, die sie miterlebte, so angenehm waren, eher eine Art Flirt: erhobene Stimmen und hilflose Blicke, Berührungen an Armen und Schultern, Lippen, die versuchten, sich nicht zu öffnen, sich nicht zu verraten. Ihre Eltern boten einander Auseinandersetzungen als eine Art konzentrierter Zuneigung dar. Ihr Schweigen, das war das Schlimme – nicht häufig, aber richtig schlimm. Wenn sie einander traurig machten, gab es keine Worte.
    »Ich dachte …« Ihr Vater trat im Flur von einem Fuß auf den anderen, wand sich – das merkte sie – vor leisem Vergnügen wie vor Skrupeln. »Na ja, hätte doch sein können … dachte ich.«
    »Du hast gar nicht gedacht. Weil du ein Idiot bist.« Ihre Mutter macht eine Pause. »Geh rein und bring es in Ordnung …« Diese Worte, das weiß Beth, soll sie hören und glauben. »Du bist doch der Zauberer – du kannst alles in Ordnung bringen.« Und dann leiser, aber nicht unhörbar: »Oder du musst dich damit herumschlagen, wenn sie einen Monat lang Albträume hat.«
    »Einen Monat wird es nicht dauern.«
    »Woher willst du das wissen? Jedenfalls wirst du dich darum kümmern, weil ich schlafen werde. Du darfst ja morgens ausschlafen, du Nachteule …«
    »Weil ich keinen anständigen Job habe.«
    »Weil du keinen anständigen Job hast. Tagedieb.« Unter ihrer Stimme liegt ein Grinsen.
    »Wollte mich immer von einer Frau aushalten lassen.« Unter seiner auch.
    »Ich weiß bloß nicht, ob ich dich aushalte. Vielleicht werfe ich dich zurück in den Teich …« Und das Geräusch der beiden beim Küssen – ihr Vater und ihre Mutter beim Küssen – was sie häufig taten, öfter als andere Väter und Mütter. Es war einigermaßen peinlich. »Was hast du denn um Himmels willen erwartet, Mike?«
    »Ich dachte, es wäre …«
    Und Beth wird nie erfahren, ob er lustig sagen wollte, oder schön , oder erschreckend , weil er den Satz nicht beendet, nur ein erneutes Kussgeräusch folgen lässt und gleich darauf in ihr Zimmer kommt und sich auf ihre Bettkante setzt – die Matratze gibt nach und nach und nach – ein Gefühl, dass sie immer lieben wird, das Gewicht eines Menschen auf dem Bett, so etwas Freundliches und Einfaches – und er sagt zu ihr: »Es tut mir so leid, kleiner Knopf. Wirklich.« Und er hält ihre Hand, die Augen auf den Boden gerichtet. Er schaut meistens weg, ihr Vater – es sei denn, es geht um Wichtiges. Er ist aufmerksam, vielleicht sogar zu aufmerksam, so dass er nicht immer hinsehen kann, außer kurz und zuckend. »Wirklich. Deine Mutter wird mich nachher umbringen.« Dann schluckt er hörbar und starrt, als hätte er einen weiteren schlimmen Fehler begangen, während er gleichzeitig lächelt. »Ein bisschen – sie wird mich ein bisschen umbringen. Sie wird mich nicht richtig totmachen. Aber sie ist sauer. Auf mich. Nicht auf dich.« Und er schaut sie kurz an. »Alles in Ordnung, Beth?«
    »Mm-hm.« Sie mag es, wenn ihm etwas leidtut, darum ist sie streng.
    »Sicher, Liebes?«
    »Mm-hm.«
    Inzwischen ist sein Gesicht schmerzlich besorgt, also gibt sie nach, drückt seine Finger, umarmt seinen Arm.
    »Ach, gut. Das freut mich.« Die Erleichterung lenkt seinen Blick wieder in die Ferne, und er erklärt: »Ich wollte dich nicht erschrecken. Nicht so sehr. Überhaupt nicht sehr.« Und in seiner Stimme liegt dieses Schnurren, das Gute-Nacht-Geschichten-Schnurren, das Entspannung und Frieden um sie breitet. »Und das Licht wird dir jetzt zu Diensten sein, ich habe es ihm befohlen und Zauberpulver draufgestreut und – « Er öffnet die Finger und wedelt damit, so dass weißes und grünes und blaues Glitzern auf die Bettdecke fällt und leuchtet – »du kriegst auch welches. Und alles ist gut .« Beth weiß, das Zauberpulver stammt aus einem Schraubglas: Sie war mit ihm in dem Fachgeschäft, wo es verkauft wird. Das Pulver tut gar nichts, es ist bloß hübsch. Seine Stimme ist es, die sie zur Ruhe bringt. »Ich wollte dir keine Angst einjagen.« Sie rechnet damit, dass seine Musik dauerhaft, für immer in ihrem Leben bleiben wird – ein Klang, der ihr das Rückgrat streichelt, der Zuhause ist, der da ist, verlässlich. »Nicht so sehr und so schlimm. Entschuldige.« Es wäre über alle Begriffe schlimm, wenn

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