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Das blaue Buch - Roman

Das blaue Buch - Roman

Titel: Das blaue Buch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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vorm Aufgeben.
    Unerfahrenheit.
    Arthur ist hinter mir, aber ich weiß, mir ist bewusst, dass er sich keine Sorgen macht, also wage ich mich weiter vor, beharre – sie kann nicht ohne Grund hierhergekommen sein.
    Und da wird sie wütend – wunderbarer, stummer Zorn – sie ist kurz davor zu brüllen, für wie beschissen unfähig sie mich hält – das kann ich sehen – und zwar, weil sie solche Angst hat – diese verängstigten Augen – so verdammt furchtsam. Wer keine Angst hat, braucht nicht so viel Bitterkeit, so viel Wut.
    Sie versteckt sich darin.
    Ich gehe auf und ab – und ich weiß, Arthur sitzt mit verschränkten Armen da – sanft, zart – beide Hände sind sichtbar, die Finger, aber ich kann den Kontakt mit Sally nicht abbrechen, nicht richtig hinschauen – ich glaube, er zeigt drei Finger und vier – das ist seine Meinung, und ich stimme ihm zu – hat er mir vorher nicht erzählt, vielleicht ist es also geraten oder ein Detail, das er vergessen hat – allerdings vergisst er nie etwas – drei und vier, das ist Sally, ihre Geschichte – sie hat ein Kind verloren.
    Sicher bin ich wegen eines Blicks – eine Kopfbewegung nach unten und zur Seite, und als sie mich wieder ansieht, den Blick hebt, ist sie jünger – für einen zuckenden Moment ist sie jünger, gerade am Anfang dieser neuen Zärtlichkeit, Mutterliebe, und schon ist sie sinnlos – gestohlen – die Frau, die sie sein wollte, verschwindet.
    Ein Tag, an dem die Welt dich anspringt und alles herausreißt, aber dich am Leben lässt, dich zum Leben zwingt, dich zum Bleiben zwingt, ohne das Alles, das du brauchtest.
    Damals haben die Krankenhäuser sich nicht gekümmert – ist heute auch nicht viel besser – also beschränkst du deine Beschreibung auf das Problem, etwas oder jemanden zu sehen; du sagst, sie war im Krankenhaus und wollte jemanden sehen.
    Und dann siehst du zu, wie sie zerbricht, eine ganze Frau, in Schluchzer gequält. Sie haben sie das Baby nicht sehen lassen – und kein Grab – Tempo und Flure und Taubheit und Nichtwissen – die Schweine – sie hat es nie gekannt – Drecksäcke – hat ihr Kind nie gekannt, hat nie angefangen oder aufgehört oder irgendwelche Hilfe bekommen – sie haben sie einfach mit all dem sitzenlassen.
    »Kleine Anziehsachen, Sie reden mit Ihrer Mutter über rosa oder blau …« Rosa war ein Treffer, eine Spur von einem Stich, ihre Schultern spannen sich an – ein Mädchen also, ein totes Mädchen. »Ihr Mädchen weiß, dass Sie einen Namen für sie hatten, und sie kann Sie hören, wenn Sie ihren Namen sagen.« Das ist riskant, aber der Mund ist so weich, ist so gewöhnt ans Sprechen, dass die Chancen gut stehen: Wenn ich sie zum Denken bringe, dann auch zum Sprechen – und sie tut es, sie fängt an, den Namen zu sagen – sie lässt es zu – der unnennbare Name. »Pa – pa …« Ich entziffere ihre Lippenbewegung – muss ja nicht präzise zutreffen. »Ich empfange etwas … Er fängt mit P an.« Und dann spricht die Mutter ihn laut aus, wie eine Liebe, wie einen Stolz: »Pam.« Mehr bekommt sie nicht heraus, muss nach der Hand zu ihrer Rechten greifen – sie kennt die Person nicht, hält sich nur fest, weil sie Angst hat zu fallen, in die Tiefe gezogen zu werden, die immer da ist, die immer nach etwas Gutem jagt und es wegnimmt.
    Ich riskiere die Möglichkeit, einen Friedhof zu erwähnen – sie ging natürlich ohne ihren Mann hin, denn der ist ein Arschloch, wie bereits festgestellt – irgendwie ist sie auf einem Friedhof – sie wollte eigentlich gar nicht, aber jetzt ist sie da – nicht am Grab ihrer Tochter, sie hat keine Ahnung, wo ihre Tochter begraben ist – vielleicht ist sie einfach in eine Sickergrube geworfen worden, aber das werden wir nie erwähnen, ich werde nur andeuten, dass Sally gesucht und nicht gefunden hat – und auf dem Friedhof ist sie irgendwo am Rand, ein ungepflegter Ort, wo die zur Unzeit Gestorbenen gruppiert sind – eine Reihe Gedenksteine, verblassende Spielzeuge und Kinderzimmerfarben, billig und offensichtlich und sentimental, es krallt sich in deine Beine, in den Hohlraum in dir, wo sie gewachsen ist, und zieht dich hinab, bis du im Rasen steckst und weiter sinkst, bis du an jenem Ort bist – sie hat es gespürt, hat oft an die immerwährende Taubheit gedacht, die Leere, von der sie nicht glauben will, dass sie alles ist, was kommt, wenn sie über den Rand ihres Lebens fließt – sie hat es verlassen und zu ihrem Beinahe-Kind gehen wollen –

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