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Das blaue Buch - Roman

Das blaue Buch - Roman

Titel: Das blaue Buch - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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Großes sich für uns interessieren, aufmerksam werden – als könnten wir die Natur beeinflussen, indem wir ihren Blick erhaschen. Das macht uns behaglich klein und mächtig wichtig zugleich – als wären wir wieder Kinder.
    Wir sind hier oben und lehnen uns gegen etwas, was wir nicht sehen können, und machen willentlich mehr daraus als Physik: erfinden eine Geschichte – eine Szene, in der wir uns mit einer aufmerksamen, leutseligen Wirklichkeit balgen. Wir sind Menschen, und Menschen tun so was: Wir leben in Geschichten.
    Ich habe die Geschichte meiner Familie, meiner Mutter, meines Vaters, meiner Gesundheit, meiner beschämenden und erlösenden und unverzeihlichen Taten – die Geschichte all dessen, was ich bin und sein wollte und sein könnte und niemals sein werde und nie versucht und nicht geschafft habe.
    Ich habe die Geschichte des guten, sauberen ehrbaren Landes, in dem ich lebe – nicht vollkommen, aber was ist schon vollkommen? – nicht vollkommen, aber auch nicht das Fegefeuer der Horrorgeschichten aus Zeitungen – nicht vollkommen, aber auch nicht das oberflächliche Paradies der Fernseh-Wohlstandsporno-Geschichten – nicht vollkommen, aber auch nicht wie die erbaulichen, erstickenden, eifersüchtigen und edlen Geschichten der beschissenen Vergangenheit – nicht vollkommen, aber auch nicht wie die bedrohlichen, schönen, verlockenden, dämlichen, schmerz- und todesfreien Geschichten der beschissenen Zukunft, die dir jeder erzählt, der möchte, dass du was für ihn tust: kaufen, wählen, sterben, töten, glauben, auf unglaubliche Weise quälen – ganz und gar nicht vollkommen.
    Ich habe die Geschichte meiner Gegenwart: das Hier und das Ist : ich auf einem Fleck ganz willkürlich irgendwo, und die Riesenhaftigkeit eines jeden ungeschützten Augenblicks unter dem rasenden Himmel. Eine wunderschöne und erschreckende Geschichte.
    Alles verdammte Geschichten: was uns nett macht, was uns zum Reden bringt, was uns hilft, uns selbst zu erkennen, andere zu berühren, selbst berührt zu werden, Liebe zu vertrauen – die verdammten Geschichten.
    Und sie machen den Zauber: den harten, knochentiefen Zauber, der die Finger zwischen deine Seiten steckt, deine Haut überstreift, dich fickt – der Zauber. Innen und außen.
    Was er mir geschenkt hat – die Macht, in den Geschichten anderer Menschen zu sein.
    Worauf ich genauso heftig stand wie er.
    Er hat mich nicht gezwungen, mich nicht auf Abwege geführt. Ich habe es genauso geliebt wie er, genau wie ihn.
    Und die blanke Luft schreit, singt, weint, wiegt sie hin und her, lässt sie auf das zerfurchte Meer blicken, wie es bricht und wieder verheilt, aufbricht und sich wieder schließt. Wenn du lange genug hinstarrst, kannst du Dinge sehen: Köpfe, Felsen, Wrackteile, Dunkelheiten, Flossen.
    Bei unserem ersten Bühnenauftritt hatte ich keine Angst. Es war eine Art, wir zu sein – ich konnte er sein und er ich – und kurz bevor wir anfingen und Arthur vom Tisch aufstand, drehte er sich um und sah mich an – den Rücken zum Publikum, er schirmte mich ab, und er erlaubte uns den Blick, uns ernsthaft anzuschauen – hier sind wir, wir arbeiten, niemand ist wie wir, wenn wir arbeiten, wenn wir der heißeste Scheiß sind – und beinah lächelt er, öffnet die Lippen und könnte mit der Zunge darüberfahren, aber er tut es nicht, denn hier geht es um andere Befriedigungen.
    Herrgott, er war wirklich was Besonderes.
    Und ich auch.
    Diese Frau – Sally – sah gelangweilt aus, fröstelnd, eine schlechte Wahl, aber ich suchte sie trotzdem aus, und das schien nicht unzutreffend, gar nicht unklug, und ich spiele ihr Namen zu, aber kein Treffer, die Minuten verrinnen zäh, der ganze Raum sackt anscheinend, und meine Stimme wird leise, trocken und klein, und ich improvisiere wild, dass sie etwas unwohl aussieht und vielleicht nicht genug auf sich achtet – kaum eine kühne Vermutung: Sie war aufgedunsen, dick aus Selbsthass, billige Frisur, ungeliebte Haut – Verlobungsring, Ehering, wahrscheinlich Anfang vierzig, wirkte aber älter – und sie gibt mir keinerlei Zeichen, hat aus häuslichen Umständen, aus sehr persönlicher Erfahrung gelernt, dass man keine Zeichen geben darf – ich möchte ihr sagen: »Ihr Mann ist ein Arschloch. Er ist so gut wie zweifelsfrei ein Arschloch, und alle Toten, die hier bei mir sind, möchten Ihnen das gern sagen«, aber abgesehen davon – und das kann ich nicht gut machen – bleibt mir so gut wie nichts mehr, ich bin kurz

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