Das blaue Mädchen
gleichzeitig den Kräuterverkauf auf den Wochenmärkten der Umgebung. Judith war eine dieser unscheinbaren Frauen, deren Alter man nicht schätzen kann, früh ergraut, das Gesicht jedoch glatt und faltenlos. Nie sah man sie untätig herumsitzen. Unermüdliche Arbeit schien die Quelle ihrer Kraft zu sein.
Nach ihren ersten Worten wusste Jana, warum dieser Unterton am Abend zuvor in La Lunes Stimme gewesen war. Sie würde sich nicht ausschließlich um Miri kümmern können, weil es noch zwei andere kranke Mädchen gab, Linn und – ausgerechnet – Indra.
»Magen-Darm-Infektion«, erklärte Judith knapp. »Am besten, ich zeige dir zuerst einmal alles.«
Sie führte Jana in die kleine Küche.
»Die Mädchen sollen so viel wie möglich trinken, vor allem Indra und Linn. Ich habe schon Tee vorbereitet. Wenn er nicht ausreicht – hier im Schrank findest du Kamillenblüten. Zu essen bekommen sie vorerst nichts. Jede Stunde gibst du ihnen einen Löffel von diesem Sud.«
Sie hob ein Schälchen hoch, in dem sich eine undefinierbare, fast schwarze Flüssigkeit befand, in der kleine Stücke von etwas ebenso Undefinierbarem schwammen.
»Auch Miri?«, fragte Jana.
Judith nickte.
»La Lune hat ihn selbst zubereitet. Er wirkt fiebersenkend und reinigend.«
»Haben sie Schmerzen?«, fragte Jana.
»Indra und Linn sind sehr tapfer«, sagte Judith. »Sie haben Krämpfe, beklagen sich aber mit keinem Wort.«
»Und Miri?«
»Wir behandeln ihre Mittelohrentzündung mit warmem Öl und heißen Umschlägen. Sie ist... nun ja, keine einfache Patientin.«
Sie gingen zum Schlafsaal hinüber.
»Wo der Waschraum und die Toiletten sind, weißt du noch?«
Jana nickte. Sie erinnerte sich an jeden Winkel, sie wusste sogar noch, wie viele Schritte es von der Tür des Schlafsaals bis zu ihrem Bett gewesen waren, wie viele Schritte vom Schlafsaal bis zum Waschraum oder vom Waschraum bis zur Küche. Kinderschritte. Meistens barfuß auf dem kalten Boden.
Es war ein verhangener Tag und in dem spärlichen Licht, das durch die Fenster fiel, wirkte der Schlafsaal wie abgedunkelt. Leise Meditationsmusik erklang von irgendwoher. Jana erschrak vor dem Ansturm längst vergessener Gefühle.
In dem letzten Bett auf der linken Seite hatte sie geschlafen. Maras Bett war das daneben gewesen. Oft hatten sie noch in der Dunkelheit geflüstert, mäuschenleise, damit die Kinderfrau es nicht hörte. Und manchmal war Mara in der Nacht zu Jana ins Bett gekrochen, wenn sie wieder aus einem hässlichen Traum aufgeschreckt war.
Vom ersten Schrei der Vögel waren sie wach geworden, aus lauter Angst davor, dass die Kinderfrau sie zusammen in Janas Bett finden könnte, denn jedes Mal, wenn das geschehen war, hatte La Lune sie bestraft.
Streng und gerecht.
Gerecht?
Bis zum Abend fasten war eine der Strafen gewesen. Kalt duschen zu müssen, eine andere. Am schrecklichsten aber war es gewesen, einen ganzen Tag lang allein in einem Zimmer eingesperrt zu sein, das völlig leer war. Kein Tisch, kein Stuhl, kein Spielzeug, nicht einmal ein Kissen. Das Nichts war seitdem für Jana immer ein leerer Raum gewesen.
Ihre Schritte hatten komische Geräusche gemacht in diesem Zimmer. Ihre Stimme war an den nackten Wänden hochgeklettert und oben an der Decke hängen geblieben. Jana hatte versucht, nicht zu weinen, weil sich das anhörte, als weinte noch ein Mädchen neben oder hinter ihr, das sie nicht sehen konnte. Sie hatte sich in eine Ecke gekauert und sich ganz klein gemacht. Und die Augen zugekniffen, damit das unsichtbare Mädchen sie nicht finden konnte. Sie war sich sicher, dass dieses Mädchen böse war.
Und dann war La Lune gekommen und hatte die Tür aufgemacht. Und Jana hatte sich erst für die Strafe bedanken müssen, bevor sie wieder hinauslaufen durfte. Zu den anderen. Zu Mara. Und Mara hatte ein weißes Gesicht gehabt, fast so weiß wie die Wände in diesem Zimmer.
Als wäre all das erst gestern passiert.
Plötzlich empfand Jana heftiges Mitleid für das kleine Mädchen, das sie gewesen war. Sie hätte gern mit ihm gesprochen und es getröstet, aber Judith stand neben ihr, die Arme vor der Brust verschränkt.
Mauern. Überall. Aus Steinen. Aus Holz. Aus Armen.
»Dann lasse ich dich jetzt allein«, sagte Judith leise. »Gegen Mittag löse ich dich ab.«
Ihre Schritte entfernten sich auf dem Flur. Jana schob die Erinnerungen beiseite und ging geräuschlos an den Betten entlang. Indra und Linn schliefen. Miri lag wach.
»Jana«, flüsterte sie.
Jana
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