Das blaue Mädchen
Marlon.
Und wieder versanken sie in Schweigen.
Marlon. Ich streichle deinen Namen und küsse dich in Gedanken. Und mir wird schwindlig wie bei unserem ersten Kuss im Wald.
Ich wünsche mir, dass mir immer mehr und mehr schwindlig wird, bis meine Welt und deine sich so heftig um uns drehen, dass sie zu einer werden.
Ich werde beim Einschlafen an dich denken. Vielleicht kann ich dich dann mitnehmen in meinen Traum.
M ein
A lles
R ed mit mir
L ach mit mir
O der küss mich
N ur ganz still
»Zur Ablenkung«, hatte Marsilio gesagt. »Bloß für ein Glas oder zwei.«
Und so standen sie jetzt an der Theke des
Pradis
, die Diskokugel an der Decke warf Lichtblitze in den schäbigen Raum und der Lärm war ohrenbetäubend.
Der Wirt, der gleichzeitig Diskjockey, Barkeeper und Rausschmeißer war, wurde gerade in seiner dritten Funktion tätig, packte einen Störenfried am Kragen und beförderte ihn kurzerhand hinaus. Dann reduzierte er die Lautstärke der Musik auf ein erträgliches Maß.
»Dieser Witzbold hat doch tatsächlich geglaubt, er kann sich an meiner Anlage zu schaffen machen«, erklärte er und rieb sich die Hände, als wäre er gerade erst so richtig in Fahrt gekommen. »Da hat er sich aber geschnitten. Hab noch keinen Bock auf ein Hörgerät.«
»Lauter! Lauter!«, johlten welche an einem Tisch ganz hinten.
»Und wenn die da so weitermachen«, sagte der Wirt, »dann fliegen sie in hohem Bogen hinterher, so viel steht fest!«
»Es geht doch nichts über Zucht und Ordnung.« Tim grinste ihn an.
»Und du könntest, wie ich das sehe, der Nächste sein. Ich lass mich von euch nicht zum Affen machen, merkt euch das!«
Sie nahmen ihre Gläser und verzogen sich an einen der freien Tische. Heute war wenig los. Vielleicht war der Wirt deswegen so schlecht gelaunt. Keiner seiner Vorgänger hatte sich länger als ein Jahr im
Pradis
über Wasser gehalten und man munkelte, dass es auch ihm schon bis zum Hals stand.
Marlon ging die Treppe hinunter, die zu den Toiletten führte. Putz war von den fleckigen Wänden abgeblättert, die Fliesen auf dem Boden waren kaputt und verdreckt. Marlon ließ sich kaltes Wasser über die Handgelenke laufen, eine braune Brühe, die in langen Jahren das Waschbecken dunkel verfärbt hatte. Der Geruch hier unten stülpte ihm fast den Magen um.
Als er wieder nach oben kam, sah er, dass Tim und Marsilio tanzten. Am Tisch saß lächelnd ein Mädchen und wartete auf ihn.
»Hast du Lust?« Sie wies mit dem Kopf zur Tanzfläche.
»Tut mir Leid«, log er. »Ich hab mir den Fuß verstaucht.«
»Dann bleiben wir einfach hier sitzen«, sagte sie. »Erzähl mir was.«
Sie war nicht von hier und noch vor ein paar Wochen hätte ihre direkte Art Marlon gefallen. Er hätte mit ihr getanzt und wäre neugierig auf ihr Lachen gewesen. Er hätte auch Worte gefunden.
Ihre Haare waren kurz geschnitten und leuchtend rot gefärbt. Ihre Lippen waren schön geschwungen und voll. Bestimmt hätte es ihn gereizt, sie zu küssen.
»Sei mir nicht böse«, sagte er. »Aber ich wollte gerade gehen.«
»Schade.« Sie hob die Schultern. »Ich hätte dich früher ansprechen sollen.«
Er stand auf, gab seinen Freunden ein Zeichen und ging zur Tür. Langsam und mit einem leichten Hinken, um einen verstauchten Fuß glaubhaft zu machen.
Die Landstraße war nicht beleuchtet und das Licht des Scheinwerfers reichte nicht weit. Marlon hatte das Gefühl, mitten in die Nacht hineinzufahren wie in ein großes schwarzes Loch. Niemand begegnete ihm und niemand überholte ihn. Es war, als hätte die Dunkelheit alles ausgelöscht und nur ihn übrig gelassen.
Beim Dorfeingang stieg er ab und schaltete den Motor aus. Er schob den Roller an den Gebäuden der Kinder des Mondes vorbei. Es regnete nicht mehr. Die Wolkendecke hatte sich geöffnet und den Mond freigegeben, fern und rund und kalt.
Vor dem Mädchenhaus blieb Marlon stehen und schaute zu den Fenstern hoch. Hinter einem dieser Fenster war Jana. Er hatte Lust hineinzustürmen, die Türen aufzureißen und nach ihr zu suchen. Sie aufzuheben und auf den Armen hinauszutragen, wie es die Ritter seiner Kindheit getan hätten.
Aber seine Kindheit war vorbei. Ritter gab es nur noch in Romanen und Märchen. Nur der Drache hatte überlebt. Er nannte sich
Mondheit
und ließ seine Jungfrauen gut bewachen.
17
Judith bat Jana herein und begrüßte sie freundlich. Wie die meisten Kinder des Mondes hatte sie verschiedene Aufgaben. Sie war eine der Pflegefrauen und organisierte
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