Das bleibt in der Familie: Von Liebe, Loyalität und uralten Lasten (German Edition)
bekommen. So, wie ihre Eltern es sich von ihr wünschen. Nicola hat viel verstanden, sie hat jahrelang Therapie gemacht. Sie weiß, dass ihre Essstörung sie lebenslang begleiten wird. Auch wenn sie ihre alten Überlebensstrategien immer mehr benennen kann und gesündere Strategien, dem Leben und dessen Herausforderungen zu begegnen, einübt, fällt sie in Krisenzeiten zurück auf ihre in der Kindheit erlernte Überzeugung »Ich will niemanden stören, ich bin unwichtig und falsch«. In diesen Phasen ist die kontrollierte Beschäftigung mit Essen eine Hilfe und gibt ihr ein kurzlebiges Machtgefühl, das sich spätestens nach einer Ess-Brech-Attacke in Scham und Ekelgefühle umwandelt. Hungern, um sich zu betäuben, Essen, um sich zu spüren und kurzzeitigen Genuss zu haben, Kotzen als aggressiver Akt gegen sich selbst, um sich zu bestrafen und um die Kontrolle wiederzuerlangen – ein teuflischer Kreislauf, der bei Nicola ausgeht von der Erfahrung, unerwünscht zu sein.
Vernachlässigte Kinder sollen eigentlich bereits als unabhängige kleine Erwachsene auf die Welt kommen. Vernachlässigende Eltern lehnen Kinder in ihrer Bedürftigkeit und Abhängigkeit ab und fördern stattdessen die Loslösung von Anfang an oder viel zu früh. Der Auftrag heißt hier im Gegensatz zu gebundenen Kindern: »Stör mich nicht, sei selbstständig und werde schnell erwachsen.« Die Bandbreite von ausstoßenden Eltern reicht von milder Ablehnung, dass man ein Kind oder gerade dieses »störende« Kind hat, bis zu totaler Abneigung gegen das Kind und Verweigerung der elterlichen Rolle.
In der Natur pflegen Tiere ihre Jungen so lange, bis sie sich selbst ernähren können und ohne Hilfe der Eltern überlebensfähig sind. Diese Instinkte sind auch in der menschlichen Spezies angelegt. Wenn allerdings Eltern in ihrer Bindungsfähigkeit schwer gestört sind, ist selbst eine basale Versorgung des Nachwuchses nicht gewährleistet. Wie bei Jessica, die im Frühjahr 2005 traurige Berühmtheit erlangte, nachdem sie, gerade siebenjährig, in ihrem Kinderzimmer starb. Jahrelang hatte sie vor sich hinvegetiert, von den Eltern in der eigenen Wohnung verstoßen. Weder die Mutter noch ihr von einem Psychiater als »schrecklich gleichmütig« diagnostizierter Lebensgefährte reagierten auf das Wimmern, das Jessicas Tod vorausging. Jessica hat Kaspar-Hauser-ähnliche Zustände erleiden müssen, in einem verdunkelten, abgeschlossenen Zimmer ihr Dasein gefristet, keine Aufmerksamkeit, keine Zuwendung, keine Anregung und nicht einmal ausreichend Nahrung bekommen. Ihre Sprache verkümmerte, ihr Wachstum versagte, und statt mit anderen Kindern die Schule zu besuchen und nachmittags zu spielen, verbrachte sie tagein, tagaus allein in ihrer reizarmen Zelle und versank in der Leere, die ihre Eltern ihr zugewiesen hatten. Als Jessica schließlich qualvoll starb, wog sie so viel wie ein zweijähriges Kind.
Jessica war weder das erste noch das letzte Kind, das sterben musste, weil die Eltern es vernachlässigten. Nach jedem Kindstod, der vermeidbar gewesen wäre, werden Schuldige gesucht. Das Jugendamt, die Gesellschaft, die Nachbarn, die Verwandten – wer trägt die Verantwortung, wenn Eltern unfähig sind, ein Kind großzuziehen? Eltern, die ihr Kind derart vernachlässigen und quälen, leiden zunächst einmal unter einer schweren Bindungsstörung. Diese und andere psychische Störungen fallen nicht vom Himmel, sie kommen nicht irgend woher, sondern sie sind immer auch in der Biografie, in den Kindheitserfahrungen der Täter zu verorten. Es ist keine Entschuldigung, dass Jessicas Mutter Marlies in ihrer eigenen Kindheit ähnliche Qualen erlebt hat. Aber es ist wichtig, zu verstehen und zu benennen, dass hier eine Wiederholung stattgefunden hat. Auch Marlies war das Opfer bindungsloser, verrohter Erwachsener, die sie vernachlässigten, misshandelten und missbrauchten. Auch Marlies hat nie eine Kindheit gehabt, in der sie sich sicher und geliebt fühlte. Über Marlies’ erste sechs Lebensjahre ist wenig bekannt, außer dass sie viel sich selbst überlassen war. Ihr Vater war gänzlich abwesend, ihre Mutter, Alkoholikerin und Gelegenheitsprostituierte, verbrachte mehr Zeit in Kneipen als zu Hause mit ihrem Kind. Als Marlies sechs Jahre alt war, zog ihre Mutter mit ihr zu ihrem Onkel in dessen Einzimmerwohnung, wo Marlies gezwungenermaßen Zeugin des inzestuösen Verhältnisses der beiden Erwachsenen wurde. Niemand nahm Rücksicht auf das kleine Mädchen, nicht
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