Das bleibt in der Familie: Von Liebe, Loyalität und uralten Lasten (German Edition)
einmal grundlegende menschliche Bedürfnisse wie regelmäßige Nahrung wurden erfüllt. »Kinder sind wie Unkraut, die finden selber was zu essen«, höhnte Marlies’ Großonkel etwa. Marlies sollte für die Erwachsenen unsichtbar sein, ihr Bewegungsspielraum war auf ein Bett begrenzt, das im selben Raum stand, in dem auch sexuelle Handlungen zwischen ihrer Mutter und dem Onkel stattfanden. Marlies’ Mutter schritt weder ein, als der Onkel Marlies demütigte, sie schlug und sie terrorisierte, noch als er begann, Marlies zu missbrauchen.
30 Jahre später stirbt Marlies’ Tochter Jessica in ihrem Kinderzimmer an massiver Vernachlässigung. Deutlicher kann es nicht werden: Jessicas bedauernswertes Leben und ihr Tod sind die Folgen einer transgenerationalen Wiederholung.
Bindung, Empathie, Verantwortung – Fremdwörter in dieser Familie, deren Mangel in jeder Generation furchtbaren Schaden anrichtete. Jessicas Mutter streitet vor Gericht bis zum Schluss ab, dass sie ihre Tochter habe verhungern lassen. Sie gibt an, dass die Tochter Nahrung verweigert habe. Sie habe Jessicas Kleidung mit Kabelbindern am Leib fixieren müssen, weil Jessica sich ständig ausgezogen habe. Die Spielsachen habe man ihr wegnehmen müssen, weil sie alles kaputt gemacht habe. Der Vater berichtet, Jessica habe kurz vor ihrem Tod »gemeckert« und »gequakt«. Auf gut Deutsch: Jessica war irgendwie selbst schuld an ihrer Misere, weil sie ihre Eltern gestört hat. So wie Marlies selbst einst störte, wenn sie sich im Bett bewegte und den Kopf hob, der ihr daraufhin von ihrem Großonkel auf den Boden geschlagen wurde.
Die Verleugnung der eigenen Verantwortung ist in dieser Familie grenzenlos: Marlies’ Mutter, Jessicas Großmutter, zu der Marlies seit ihrer Jugend den Kontakt abgebrochen hatte, fordert, man möge ihre Tochter zwangssterilisieren und für immer hinter Gitter bringen. Dieser Vernichtungswille und die Strategie, eigene Verantwortung und Schuld abzuwehren und konsequent auf die Kinder zu verschieben, ist die extremste Form, die Ausstoßung in Familien annehmen kann: Jessica war nur das letzte Glied in einer Generationenkette von misshandelten und vernachlässigten Kindern.
Es liegt keine Notwendigkeit in der Wiederholung, es gibt keine mathematischen Gleichungen, keine immer gültigen Wenn-dann-Formeln. Aber es gibt eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass gequälte Kinder nicht zu gesunden, liebevollen Erwachsenen heranwachsen. Und so ist es sicher kein Zufall, dass ein großer Prozentsatz von jugendlichen Straftätern aus Familien stammt, in denen sie alles andere als gut versorgt wurden. Abwesende Väter, überforderte Mütter, vor allem aber eine frühe und anhaltende emotionale Vernachlässigung kennzeichnen die Biografien dieser Jugendlichen oft.
Viele verleugnen aus Selbstschutz das Martyrium ihrer Kindheit. So wie der 16-jährige Mario, den ich während einer Untersuchung im Jugendgefängnis kennenlernte und der im Brustton der Überzeugung sagte, dass seine Mutter ihn sehr geliebt habe, obwohl sie zugelassen habe, dass ihr drogenabhängiger Freund ihm zunächst Beruhigungsmittel und später Heroin gespritzt habe, um Mario ruhigzustellen. Er stellte von selbst eine Parallele zur Kindheit seiner Mutter her, auch sie sei Tochter zweier Alkoholiker und viel geschlagen worden. Sein Vater sei ihm unbekannt, aber sicherlich ein toller Typ, er stelle sich ihn wie Bruce Willis vor und hoffe, ihn eines Tages kennenzulernen.
Das Fazit eines 16-jährigen Lebens: Drogenabhängig, seit Jahren auf der Straße lebend, derzeit im Jugendknast für ein Jahr weggesperrt als Strafe für einen bewaffneten Raubüberfall, kein Schulabschluss, kein Kontakt zu den Eltern. Marios Mutter sei mittlerweile auch untergetaucht. Und trotz allem versuchte Mario, sich an der Illusion eines liebevollen Elternhauses festzuhalten – ein Pippo Langstrumpf, der seine Eltern verherrlicht, um die Trauer über seine furchtbare Kindheit und den Schmerz der Vernachlässigung abzuwehren.
Nähern wir uns nach diesen Extrembeispielen von Vernachlässigung wieder den »normalen« ausstoßenden Familienverhältnissen: den kleinen Bemerkungen, den abweisenden Verhaltensweisen der Eltern, die dem Kind klarmachen, dass es eigentlich nicht gewünscht ist. Die Priorität des Berufs, das Verstecken hinter wichtigen Terminen, der Zeitung, dem Fernseher und die hohen elterlichen Erwartungen, ohne aber das Kind auf seinem Weg zu unterstützen.
Da wäre Markus, das älteste von
Weitere Kostenlose Bücher