Das bleibt in der Familie: Von Liebe, Loyalität und uralten Lasten (German Edition)
Beata ist es, die ihren Gefühlen Raum gibt: »Das darf doch nicht wahr sein! Das ganze Leben kümmern sie sich nicht um dich, und dann sollst du dich plötzlich um sie kümmern? Wie gerecht ist das?« Torsten ist sprachlos. Sein ganzes Leben lang hatte er sich schuldig gefühlt, weil er seinen Eltern »die Haare vom Kopf fraß«, und nun, endlich auf eigenen Füßen stehend und im Begriff, eine eigene Familie zu gründen, soll er zusätzlich die Verantwortung für seine Eltern übernehmen und finanziell für sie sorgen. Egal, wie er sich entscheiden wird, Schuldgefühle werden ihn belasten.
Torstens Eltern handeln aus unbewusstem Kalkül: Auch sie waren einst ausgebeutete Kinder, die von ihren Eltern nicht genug bekamen und immer auf sich selbst gestellt waren – sowohl emotional als auch finanziell. Gerechtfertigte Forderungen werden in Familien manchmal ungerechterweise auf die nächste Generation verschoben. Torsten soll nun zahlen und real und symbolisch eine alte Schuld begleichen, er soll für das aufkommen, was seine Eltern früher von ihren Eltern nicht bekommen haben.
Torsten ist in der Zwickmühle. Er ist das einzige Kind seiner Eltern, ohne ihn und seine Unterstützung würden sie ihr Haus verlieren, ihr gesamtes Umfeld, und wer weiß, wohin diese Änderungen führen würden und wie Torsten sich mit dieser Schuld fühlen würde. Nach vielen Gesprächen mit seiner Lebensgefährtin beschließt Torsten, seine Eltern mit einem kleinen Betrag zu unterstützen, der seine eigene kleine Familie nicht in Gefahr bringt. Er hat seinen Eltern gegenüber ein schlechtes Gewissen, dass er nicht die volle Summe bezahlt, die sie fordern, aber da ist etwas, was stärker wiegt als alles andere: die Bedeutung seines kleinen Sohnes und das Bewusstsein, die generationenalte Verschiebung von Verantwortung endlich auflösen zu können. Er nimmt sich vor: Sein Sohn soll sich nie für ihn verantwortlich fühlen. Sein Sohn soll nie für ihn sorgen müssen, und es soll ihm an nichts mangeln. Um sicherzustellen, dass sein Sohn es irgendwann einmal einfacher hat als er, legt er bei seiner Geburt ein Konto an, auf das er ebenfalls eine monatliche Summe einzahlt, die er für seine Ausbildung erhalten soll. Schuldgefühle seinen Eltern gegenüber und ein gutes Gefühl seinem Sohn gegenüber halten sich somit in der Waage.
Wie Torsten versuchen ausgebeutete Kinder oft bis ins Erwachsenenalter, es ihren Eltern recht zu machen, um endlich das gewünschte Maß an Anerkennung und Liebe zu erhalten – koste es, was es wolle. Gregor Samsa, die von Franz Kafka in der Erzählung Die Verwandlung eindringlich beschriebene Figur, ein ausgebeutetes und schließlich ausgestoßenes Kind, bezahlt diesen Wunsch mit seinem Leben. Es seiner Familie recht zu machen und sie möglichst wenig zu stören ist der Lebensinhalt von Gregor, der im Erwachsenenalter noch mit seinen Eltern und seiner jüngeren Schwester lebt. Um die Schulden seiner Eltern zu bezahlen, verharrt er auf einer ungeliebten Stelle:
»Wenn ich mich nicht wegen meiner Eltern zurückhielte, ich hätte längst gekündigt, ich wäre vor den Chef hingetreten und hätte ihm meine Meinung von Grund des Herzens aus gesagt. […] Nun, die Hoffnung ist noch nicht gänzlich aufgegeben; habe ich einmal das Geld beisammen, um die Schuld der Eltern an ihn abzuzahlen – es dürfte noch fünf bis sechs Jahre dauern –, mache ich die Sache unbedingt. Dann wird der große Schnitt gemacht. Vorläufig allerdings muß ich aufstehen, denn mein Zug fährt um fünf.«
Doch Gregor wird nie wieder aufstehen und zur Arbeit gehen, er hat seine menschliche Gestalt verloren, ist über Nacht in ein »ungeheures Ungeziefer« verwandelt worden. Jahrelang hatte er nur im Dienste seiner Familie gelebt, sich jeden Tag zur Arbeit gequält und schließlich sich selbst verloren.
Die äußere Verwandlung macht sichtbar, was in seinem Inneren längst geschehen war – die Abhängigkeit von den distanzierten und ihn ausbeutenden Eltern, die seine Gegenwart nur so lange dulden, wie er ihnen von Vorteil ist. Es gibt keinen emotionalen Austausch, keine Gegenseitigkeit, sondern eine klare Aufgabenverteilung: Gregor versorgt die Familie, er allein ist für das Wohlergehen der Familie verantwortlich und versucht beflissen, die Familie zu retten. Als Gregor seine Rolle als Alleinversorger nicht mehr erfüllen kann, erleidet er das typische Schicksal eines ausgebeuteten Kindes: Seine Familie stößt ihn aus ihrem Leben
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