Das bleibt in der Familie: Von Liebe, Loyalität und uralten Lasten (German Edition)
Wieder ist ein geliebter Mensch aus ihrem Leben verschwunden, ohne Vorwarnung, ohne Grund und viel zu früh. Ilse ist am Ende. Sie betäubt sich mit Tabletten. Ganze Tage verbringt sie schlafend im Bett. Sie will nichts fühlen, sie will vergessen. Ihr Mann ist traurig über den Tod seines Kindes und hilflos, er weiß seiner Frau nicht zu helfen. Also lässt er sie, er lässt sie im Bett liegen, er lässt sie weinen, er lässt sie Tabletten nehmen. Er stürzt sich in seine Arbeit und kümmert sich um die finanzielle Versorgung und hofft, dass seine Frau ihren Schmerz irgendwann hinter sich lassen kann und sich dem Leben wieder zuwendet.
Zwei Jahre nach Franziskas Tod wird Ilse erneut schwanger. Sie bekommt wieder ein Mädchen, Vanessa. Diesmal will sie besser auf ihr Kind aufpassen. Sie lässt es nicht aus den Augen. Sie ist immer für sie da. Vanessa sagt, sie hätte eine sehr behütete Kindheit gehabt. Bis heute wohnt sie in dem Haus ihrer Eltern – schließlich ist das Haus groß genug. Aber der Grat zwischen einem behüteten und einem unfreien Leben ist schmal. Erst als sie gehen will, fällt Vanessa auf, wie gebunden sie ist. Was sie jahrelang als selbstverständlich hingenommen hat, erkennt sie jetzt in zerstörerischer Klarheit: Sie darf nicht selbstständig werden. Je glücklicher Vanessa ist, desto schlechter geht es ihrer Mutter. Je verliebter sie ist, desto unglücklicher ist ihre Mutter. »Du zerstörst alles«, wirft diese Vanessa vor. Vanessa ist hin- und hergerissen zwischen der Sorge um ihre Mutter und dem Bedürfnis, ein eigenes Leben zu führen. Vorherige Beziehungen hat sie verheimlicht und schnell beendet. Dieses Mal ist es zu ernst dazu. Sie liebt den Mann und spürt eine leise Sehnsucht nach dem Leben, das sie mit ihm führen könnte. Aber sie liebt auch ihre Mutter und möchte ihr eine gute Tochter sein. Sie fühlt sich schuldig am Unglück ihrer Mutter, auch wenn ihr rational klar ist, dass sie ein Recht auf ein eigenes Leben hat. »So kann ich sie nicht zurücklassen«, sagt Vanessa traurig. »So kann ich nicht glücklich werden, so kann ich meine Beziehung nicht leben, wenn sie wieder rückfällig wird.« Die Mutter hat keine Motivation, gesund zu werden. Gesund werden bedeutet, dass die Tochter sich weniger Sorgen macht. Gesund werden bedeutet, dass die Tochter ein eigenes Leben führen darf. Gesund werden bedeutet in den Augen der Mutter, die Tochter zu verlieren.
Ich rechne laut aus, dass Vanessas Mutter eventuell noch 30 Jahre leben könnte, trotz ihrer schweren Abhängigkeit. Das würde bedeuten, dass Vanessa 60 Jahre alt wäre, bis sie ein eigenes Leben führen dürfte. Vanessa starrt mich an. Ich frage sie, ob sie den Auftrag, für die Mutter zu sorgen und ihr eigenes Leben zurückzustellen, noch so lange erfüllen möchte. »Nein!«, sagt sie entschieden. »Auf gar keinen Fall.« Trotzdem weiß sie keinen Ausweg. Kein Wunder. So fühlen sich Aufträge an, die Kinder an die Familie binden.
Was aber passiert, wenn ein an die Familie gefesselter Mensch doch irgendwann ein eigenes Leben beginnt? Schuldgefühle werden ihn überkommen: Entweder werden sie ihn zerstören, oder er wird stets versucht sein, seine Schuld zu sühnen.
Was mag die Zukunft für Vanessa bringen, wenn sie es wagt, den ungeschriebenen Vertrag mit ihrer Mutter aufzuheben? Vielleicht wird Vanessas Beziehung scheitern, weil sie sich innerlich nicht die Erlaubnis gibt, glücklich zu sein, wenn ihre Mutter dadurch unglücklich ist. Vielleicht wird Vanessa Kinder bekommen und versuchen, ihre Mutter zu beschwichtigen, indem die Enkelkinder viel Zeit mit der Großmutter verbringen müssen. Vielleicht wird Vanessa sich von ihrer Mutter distanzieren, aber in der Folge selbst krank werden, weil die Schuldgefühle sie vergiften. Vielleicht wird sie sogar selbst medikamentenabhängig, um sich zu betäuben. Vielleicht wird sie versuchen, ihre Schuldgefühle abzuspalten, und diese ihrem Mann oder ihren zukünftigen Kindern einflößen, alles, damit sie sie nicht weiter belasten. Auf diese Weise blieben die Schuldgefühle in der Familie. Vielleicht aber – und das wäre die bestmögliche Variante – kann Vanessa sich Schicht für Schicht von den Schuldgefühlen lösen und sie da lassen, wo sie hingehören: bei ihrer tieftraurigen Mutter, die nie die Hilfe bekam, die sie gebraucht hätte, um den Tod ihrer Eltern und ihres ersten Kindes zu verarbeiten. Vanessa kann ihr nicht helfen. Sie kann nur sich selbst retten. Und damit
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