Das bleibt in der Familie: Von Liebe, Loyalität und uralten Lasten (German Edition)
fünf Geschwistern, der kein Abitur machen darf, den die Eltern nach dem Realschulabschluss zwingen, eine Lehre zu beginnen und von zu Hause auszuziehen, damit »einer weniger« im Haus wohnt.
Da wäre die zwölfjährige Ines, deren Eltern gern ohne sie in den Urlaub fahren, weil das einfach mehr Spaß mache, außerdem sei sie ja nun endlich alt genug, um auch für sich selbst sorgen zu können.
Da wäre der 40-jährige Michael, der die ersten sechs Jahre bei einer Tante verbrachte, weil die Eltern keine Lust auf ein Kleinkind hatten. Als er in die erste Klasse kam und »das Gröbste hinter sich hatte«, wurde er von seinen Eltern, die ihm fremd geworden waren, wieder zurückgeholt. Bis heute reinszeniert er die alte Erfahrung, nicht gewollt zu sein, zurückgestoßen zu werden. Dieses traurige Spiel verschärft sich durch seine Neigung, Menschen, die er für sich gewinnen möchte, zu nahe zu rücken, um sie »sicher« zu haben, bis diese sich aus der erdrückenden Umklammerung befreien und ihm damit wieder einmal beweisen, ungeliebt und verstoßen zu sein.
»Stör mich nicht« ist wieder der Auftrag, der solchen Lebensgeschichten zugrunde liegt, ein Auftrag, der ins Leere führt, da er das Kind anhält, sich unsichtbar zu machen oder ganz zu verschwinden. Solche Kinder erfahren keine Geborgenheit und verlässliche Zuneigung, sie wachsen auf mit dem Gefühl, überflüssig zu sein und den Eltern (und dem Rest der Welt) nichts bieten zu können. Sie werden höchstens geduldet und meist viel zu früh aus dem Nest gestoßen. Zudem werden vernachlässigte Kinder oft nicht weniger ausgebeutet als gebundene Kinder, nur auf eine andere Art und Weise, denn die Botschaft »Stör nicht« beinhaltet auch den Auftrag »Kümmere dich um dich selbst«, was für jedes Kind eine Überforderung darstellt.
Torsten wächst als Einzelkind auf, seine Eltern erwarten von ihm, dass er sich wie ein kleiner Erwachsener verhält. Vernünftig soll er sein, ruhig und brav, gut in der Schule. Urlaube verbringen die Eltern meist ohne ihren Sohn auf exotischen Inseln, wo sie sich vom Alltagsstress erholen. Torsten wird in den Ferien bei Freunden untergebracht oder bleibt, als er alt genug ist, allein zu Hause. Als Torsten nach dem Abitur studieren möchte, wünschen ihm seine Eltern alles Gute. Ihn finanziell zu unterstützen lehnen sie jedoch ab mit der Begründung, sie hätten ihn nun lange genug »durchgefüttert«, er möge nun endlich auf eigenen Beinen stehen. Torsten tut, wie ihm aufgetragen, und schlägt sich ohne die Hilfe seiner Eltern durch. Erst als er sich auf seine Abschlussprüfungen vorbereitet und Zeit zum Lernen bräuchte, bittet er seine Eltern um eine befristete finanzielle Unterstützung. Er weist sie in einem Gespräch vorsichtig darauf hin, dass sie eigentlich sogar rechtlich verpflichtet gewesen wären, ihn während seiner Ausbildung zu unterstützen. Torstens Eltern sind entrüstet, werfen ihm vor, ein Nassauer zu sein, und brechen den Kontakt zu ihm ab. Torsten bleibt erschüttert und beschämt zurück und fragt sich, ob er zu viel verlangt. Um sein Studium in der geplanten Zeit beenden zu können, leiht er sich bei Freunden Geld. Einige seiner Freunde raten ihm, seine Eltern auf Unterhalt zu verklagen, was für Torsten undenkbar ist. Nachdem Torsten seine Prüfungen bestanden hat, lädt er seine engsten Freunde, alle, die ihn unterstützt haben, zu einer kleinen Feier ein – auch seine Eltern. »Ich möchte trotz allem, dass sie stolz auf mich sind. Es sind doch meine Eltern«, erklärt er seine Entscheidung, die im Freundeskreis mit Staunen zur Kenntnis genommen wird. Bis zu diesem Zeitpunkt wäre es eine Geschichte eines Sohnes, der versucht, mit seinen ausstoßenden Eltern Frieden zu schließen.
Aber die Geschichte ist noch nicht zu Ende: Als Torstens Vater ein paar Jahre später in Rente geht, teilen die Eltern ihrem Sohn mit, dass sie überschuldet sind und von ihm erwarten, dass er ihre Schulden bezahle und sie darüber hinaus monatlich mit einem gewissen nicht unbeträchtlichen Betrag unterstütze. Torstens Freundin Beata ist bei der Offenbarung anwesend. Sie ist hochschwanger und erwartet in ein paar Tagen ihr erstes Kind. Torsten und sie haben besprochen, dass sie das erste Jahr zu Hause verbringt. Die Forderungen, die Torstens Eltern an ihn richten, übersteigen das finanzielle Budget des Paares deutlich. Torsten ist wie erstarrt, er findet weder zustimmende noch ablehnende Worte seinen Eltern gegenüber.
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