Das bleibt in der Familie: Von Liebe, Loyalität und uralten Lasten (German Edition)
Satz nie aussprechen, neigen Kinder dazu, die Schuld für das Fehlverhalten der Eltern erst einmal bei sich selbst zu suchen und die Erwartungen der Eltern bestmöglich zu erfüllen. Darüber hinaus sind sie gezwungen, zu früh Verantwortung zu übernehmen – für sich selbst und manchmal auch noch für den Rest der Familie. Um nicht noch mehr zu stören, beschwichtigen sie ihre Eltern und andere, als sei es in Ordnung, keine richtige Kindheit zu haben:
»Pippi glaubte, dass ihre Mama nun oben im Himmel war und durch ein kleines Loch auf ihr Mädchen runterguckte, und Pippi winkte oft zu ihr hinauf und sagte: ›Hab keine Angst! Ich komme immer zurecht.‹«
Pippi Langstrumpf ist den meisten von uns weniger als alleingelassenes Mädchen, sondern eher als lustige Kinderbuchfigur bekannt, die ihr Leben unkonventionell meistert. Ihre Erschafferin Astrid Lindgren hat vermieden, Pippis schwache und bedürftige Seiten zu zeigen, und sich nur auf ihre starken, unabhängigen Anteile konzentriert. Im wahren Leben ist diese Persönlichkeitsentwicklung nicht untypisch für vernachlässigte Kinder. Sie müssen früh erwachsen werden, früh für sich selbst sorgen, früh ihre eigenen Fragen beantworten und sind mit ihren Sorgen auf sich allein gestellt. Die kindlichen abhängigen und schutzbedürftigen Tendenzen treten sodann hinter einer pseudoerwachsenen Fassade zurück. Pippi diszipliniert sich, ihre einsame und kindunangemessene Situation ins Positive umzudeuten. Ihre übermenschliche körperliche Stärke ist eine märchenhafte Kompensation ihrer kindlichen Ohnmacht und Abhängigkeitsgefühle, die sie verneinen muss, um durch sie nicht geschwächt und traurig zu werden.
Vernachlässigte Kinder gibt es nicht nur in Romanvorlagen, es gibt sie real auf der ganzen Welt. Es gibt sie in sozial schwachen Familien und in vermögenden Familien, in bildungsfernen Schichten und intellektuellen Elternhäusern. Neben den extremen Fällen, in denen Eltern ihre Kinder verhungern lassen, gibt es auch die auf leisen Pfoten daherkommende Wohlstandsverwahrlosung, wo Eltern ihre Kinder materiell (über)versorgen, sie aber emotional weitgehend sich selbst überlassen. Familien, in denen hinter der gutbürgerlichen Fassade die Kinder nur geduldet sind, überflüssig, und auf eine verstecktere Art vernachlässigt werden als ihre bemitleidenswerten Leidensgenossen, die nicht einmal mehr mit dem Nötigsten versorgt werden.
»Ich hatte immer das Gefühl, meine Eltern zu stören«, erinnert sich Nicola. Die 24-jährige Tochter zweier Professoren ist nur noch Haut und Knochen. Seit ihrer Pubertät kämpft sie gegen ihre Krankheit, die zweimal bereits lebensbedrohlich fortgeschritten war: Sie ist essgestört. Hungern, Fressattacken und anschließendes Kotzen wechseln sich ab und setzen ihrem Körper schwer zu. Solange Nicola denken kann, trägt sie den inneren Glaubenssatz »Du störst« mit sich herum. Diese destruktive Überzeugung wandelt sich um in die Sucht zu hungern, um wenigstens einen Teilbereich ihres Lebens kontrollieren zu können. Und um sich selbst zu bestrafen, weil sie sich als nicht liebenswert, sondern störend empfindet. Die elterlichen Stimmen haben sich irgendwann in eigene Stimmen umgewandelt. Jedes Kilo, das sie weniger auf die Waage bringt, macht Nicola schmaler, kleiner und – in ihren Augen – weniger störend. Trotz ihrer Erkrankung bringt sie Höchstleistungen. Ihr Studium hat sie in weniger als der Regelstudienzeit mit Bestnoten beendet. Kurz nach ihrem Abschluss wird sie jedoch von ihrer besten Freundin in eine Klinik eingeliefert. Sie ist so entkräftet, dass sie zwei Monate auf der psychosomatischen Station bleiben muss. Als sie eine Zusage für einen Job erhält, entlässt sie sich gegen den Willen der behandelnden Ärzte, verspricht aber, eine ambulante Psychotherapie zu beginnen.
Nicola funktioniert so leistungsstark und angepasst wie möglich, ohne zu klagen und ohne auf innere Warnsignale zu achten. Bis heute geht sie an ihre Grenzen und oft genug darüber hinweg. Wenn ihr Chef will, dass sie Überstunden macht, bleibt sie, egal wie es ihr gesundheitlich geht oder was sie privat geplant hatte. Ein Lob des Vorgesetzten, das selten genug kommt, lässt sie alles andere vergessen, durch einen Tadel bricht ihre Welt zusammen. Gar nicht beachtet zu werden ist der Modus, den sie am besten kennt. Sie reagiert darauf wie früher: sich kleinmachen und Höchstleistungen erbringen, um irgendwann doch mal ein Lob zu
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