Das bleibt in der Familie: Von Liebe, Loyalität und uralten Lasten (German Edition)
so schnell wie möglich eine Einzeltherapie zu beginnen, um herauszufinden, was er in dem familiären Zirkus eigentlich will.
Am Beispiel von Martin wird deutlich, dass Familienunternehmen oft weitaus mehr von ihren Nachkommen erwarten, als nur in das Unternehmen einzusteigen. Die gegenseitige Abhängigkeit, die Vermischung der wichtigsten Lebensbereiche und die dadurch entstehende Nähe führen zu einem enormen Konfliktpotenzial. Hilfreiche Bedingungen im Umgang mit Konflikten wären eine gelungene Abnabelung und gesunde Generationengrenzen – genau das, was in überloyalen Familien bedrohlich und absolut unerwünscht ist. Unbewusst wird der Konflikt, den Kinder mit ihren Eltern austragen müssten, dann lieber auf die angeheirateten Partnerinnen der Kinder verschoben. Und schon ist wie bei Hilde und Andrea ein handfester Streit zwischen Schwiegertochter und Schwiegereltern im Gange, während die Beziehung zwischen Sohn und Eltern scheinbar unbelastet bleibt. Gelingt diese Auslagerung des Konflikts über einen längeren Zeitraum, wird die Ehe des Sohnes darunter leiden. Auch der Sohn wird im Loyalitätskonflikt zwischen alter Familie und neuer Familie zermürbt werden, es bleibt also nur ein Ausweg: den Abnabelungsprozess dort voranzutreiben, wo er stagniert, die Grenzen dort zu ziehen, wo sie sinnvoll sind – und zwar innerhalb der Herkunftsfamilie. Erst dann können auch die Streitigkeiten zwischen Schwiegereltern und Schwiegertöchtern beigelegt werden, die letztlich nur ablenken oder darauf hinweisen, um was es wirklich geht: alte Loyalitäten zu hinterfragen und neue familiäre Strukturen zu schaffen, die altersgemäß und für alle Beteiligten lebbar und befriedigend sind.
Werfen wir nun abschließend einen Blick auf gestörte Loyalitätsbeziehungen, in denen Eltern ihre Kinder nicht schützen, sondern existenziell ausbeuten, ihre Grenzen verletzen und sie zu absolutem Gehorsam verpflichten. Sowohl in missbrauchenden als auch in misshandelnden Familiensystemen zwingen Eltern ihren Kindern Beziehungserfahrungen auf, die an Grausamkeit und Destruktivität kaum zu überbieten sind. Die Betroffenen leiden ihr Leben lang unter der Verwirrung und unter dem Schmerz, Opfer ihrer eigenen Eltern geworden zu sein, der Menschen, die sie in ihrer Kindheit am meisten liebten, denen sie vertrauten und von denen sie abhängig waren. Ohne therapeutische Aufarbeitung der Grenzverletzungen an Leib und Seele ist die Gefahr sehr hoch, dass die unheilbringenden familiären Muster sich in den Folgegenerationen wiederholen.
»Erzähl niemandem von unserem Geheimnis« – Wenn Loyalität kranken Regeln folgt
»Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen.«
Japanisches Sprichwort über den vorbildlichen Umgang mit Schlechtem
Wenn Eltern ihre Kinder sexuell missbrauchen, werden alle menschlichen, ethischen und in der Familie sonst gültigen Gesetze gebrochen. Stattdessen schreibt der Täter eigene, pervertierte Paragrafen vor: »Ich bestimme alles. Du hast keine Grenzen. Niemand darf es je erfahren.« Alle schauen weg. Alle schweigen. Oft schweigt auch das Kind, weil es die Erfahrung gemacht hat, in seiner Not nicht gehört und nicht gesehen zu werden. Weil es irgendwann die Sicht des Täters übernommen hat, wertlos und ohne Rechte zu sein, ein Objekt, das gebraucht und eben auch missbraucht werden kann. Scham- und Schuldgefühle, das Gebot zu schweigen und die drohenden Konsequenzen bei der Aufdeckung der Verbrechen treiben das Kind weiter in die Isolation. Manchmal ist der Täter auch gleichzeitig »Wohltäter«, weil er der Einzige ist, von dem das Kind Zuneigung und Aufmerksamkeit erhält. So bringt die emotionale Abhängigkeit das Kind in eine ausweglose Lage: Der missbrauchende Papa ist schließlich der einzige Papa, die missbrauchende Mama die einzige Mama.
Zudem gibt es in »typischen« Missbrauchsfamilien mehr als einen Täter: den missbrauchenden Vater und die schweigende, emotional distanzierte Mutter, manchmal auch die Geschwister und andere Verwandte, die aus Loyalität, Scham und Angst vor den Konsequenzen wegsehen.
Inga wurde seit ihrem zehnten Lebensjahr von ihrem Vater regelmäßig missbraucht. Die Übergriffe begannen, nachdem Ingas Mutter sich immer mehr von ihrem Mann und ihren Kindern zurückgezogen hatte. Ingas Mutter litt unter schweren Depressionen, wochenlang lag sie regungslos im Bett, notdürftig von Ingas drei Jahre älterem Bruder Olaf versorgt. Der Vater kam abends oft betrunken nach Hause. Sein
Weitere Kostenlose Bücher