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Das bleibt in der Familie: Von Liebe, Loyalität und uralten Lasten (German Edition)

Das bleibt in der Familie: Von Liebe, Loyalität und uralten Lasten (German Edition)

Titel: Das bleibt in der Familie: Von Liebe, Loyalität und uralten Lasten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Konrad
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Loyalität zum verstorbenen Vater, dem er versprochen hatte, sich um die Mutter und das Unternehmen zu kümmern. All diese alten und gegenwärtigen Verpflichtungen und Verstrickungen bringen ihn nun in Teufels Küche, denn sie verbieten ihm, sich ein eigenes Bild von der häuslichen Lage zu machen. Wäre er frei und ungebunden, könnte er sehen, dass seine Mutter tatsächlich distanzlos in sein Familienleben eingreift. Er könnte aber auch die Einsamkeit seiner Mutter wahrnehmen und trotzdem für gesunde Grenzen zwischen den Familienmitgliedern sorgen. Er könnte ihre Großzügigkeit schätzen, ohne seine Familie als Dank dafür zu opfern. Er könnte Hildes Trauer spüren über den Tod ihres Mannes und Hildes Wunsch, dass der Sohn ihr alles ersetzen möge, und könnte ihre Forderungen liebevoll, aber bestimmt zurückweisen.
    Die Realität aber sieht anders aus: Ein Streit mit der Mutter bedeutet, sich mit seiner engsten Mitarbeiterin zu streiten, mit der er täglich acht Stunden in einem Büro zusammenarbeitet. Ein Streit mit der Mutter bedeutet, sich mit der einzigen noch lebenden Verwandten zu überwerfen. Ein Streit mit der Mutter bedeutet, alles infrage zu stellen und letztlich seine ganze Existenz aufs Spiel zu setzen. Die seiner Mutter noch dazu.
    Die Unfähigkeit, sich gegen seine Herkunftsfamilie zu positionieren, zeigt sich auch in einer Therapiesitzung, zu der das Paar auch Martins Mutter eingeladen hat. Andrea und Hilde stellen ihre recht unterschiedlichen Versionen der Geschichte dar. Verzweifelt versucht Martin eine Balance zu finden zwischen den Wünschen seiner Frau und seiner Mutter. Aber hier gibt es keine Balance, hier gibt es kein »alle unter einen Hut bringen«, hier gibt es nur »entweder – oder«, klare Worte, klare Regeln. Martin ist hilflos, er hat es nie gelernt, Stellung zu beziehen, nicht einmal für sich selbst. Er hat alle Entscheidungen gemäß den Vorgaben seiner Eltern getroffen. Hilde und Andrea werden immer wütender, zerren an ihm, schmeicheln ihm, machen ihm Vorwürfe. Irgendwann hält Martin es nicht mehr aus. Er hält sich die Ohren zu und flieht aus der Praxis. Ein 45-jähriger erfolgreicher erwachsener Mann hält sich wie ein kleiner Junge die Ohren zu und rennt aus dem Zimmer, in dem zwei erwachsene Frauen sich wie Schulmädchen um seine Gunst streiten.
    Die beiden Frauen verstummen für eine Schrecksekunde, dann gehen sie ungehindert direkt aufeinander los. Ich schaue mir das Spektakel eine Weile an, stehe dann selbst auf und frage die beiden, ob auch ich den Raum verlassen soll. Beide schütteln den Kopf und versuchen nun, mit gemäßigter Lautstärke, mich auf ihre Seite zu ziehen. Ich ziehe mich lieber eine Weile in meine eigene Gedankenwelt zurück, während Andrea und Hilde ihre Wut und ihre Verzweiflung weiterhin kundtun. Ein Teil von mir kann die Ohnmacht der beiden Frauen verstehen, die sich vom Sohn respektive Ehemann alleingelassen fühlen. Die Vehemenz des Streits spiegelt die Verlustangst der beiden Frauen wider: Hilde befürchtet, ihren Sohn, ihren Platz in der Familie und die alten Rituale zu verlieren. Andrea hat Angst, ihren Mann an ihre Schwiegermutter und deren Vorgaben zu verlieren. Sie liebt ihren Mann – wenn er nur nicht so feige wäre.
    Ich versetze mich in Martin, wie er sich innerlich und äußerlich dem Streit der beiden für ihn wichtigsten Frauen entzieht, wie gefangen und zerrieben er sich fühlen muss zwischen all den Anforderungen und Bedürfnissen, wenn er doch nicht einmal für sich selbst bestimmen kann, was er will und was das Richtige ist. Hilde und Andrea verlangen Unmögliches von ihm: sich für eine Frau, sich für eine Familie zu entscheiden. Seine einzige Möglichkeit ist, sich dem Konflikt zu entziehen und die beiden Frauen direkt miteinander streiten zu lassen. Ich stoppe die beiden Streithennen und ordne eine Sitzung allein mit dem Ehepaar an. Die beiden Frauen können nicht das miteinander klären, vor dem Martin wegläuft. Er muss sich positionieren. Er muss sich entscheiden, egal wie. Martins Angst ist klar: Eine Positionierung bedeutet immer, eine Partei zufriedenzustellen und die andere zu verletzen. Entweder bleibt er der brave Sohn, oder er wird ein erwachsener Mann, der sowohl seiner Mutter als auch seiner Frau Grenzen setzen kann. Martin erlebt einen Loyalitätskonflikt zwischen alter und neuer Familie, aus dem er sich offensichtlich allein nicht befreien kann. Aus diesem Grund empfehle ich Martin beim nächsten Termin,

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