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Das bleibt in der Familie: Von Liebe, Loyalität und uralten Lasten (German Edition)

Das bleibt in der Familie: Von Liebe, Loyalität und uralten Lasten (German Edition)

Titel: Das bleibt in der Familie: Von Liebe, Loyalität und uralten Lasten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Konrad
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überwältigend sind, dass sie sie abspalten, um sie nicht fühlen zu müssen. Das Unaussprechliche, das Trauma wird dann unbewusst und ungewollt an die weitergegeben, die den Betroffenen am meisten am Herzen liegen: an ihre Kinder.
    Eine Vermischung der Generationen und ihrer Gefühle findet statt, und diese tiefe emotionale Verstrickung in die Traumata der Eltern erklärt, dass Kinder von Holocaust-Überlebenden oft ähnliche Symptome wie ihre Eltern entwickeln – obwohl sie den Holocaust nicht erlebt haben, obwohl sie in einer vermeintlich sicheren Umgebung aufgewachsen sind.
    Denn eines war nicht sicher: die Bindung zu ihren Eltern, die aufgrund ihrer traumatisierenden Erfahrungen so großen seelischen Schaden erlitten hatten, dass sie in ihrer emotionalen elterlichen Funktionsfähigkeit, also ihrer Feinfühligkeit dem Kind gegenüber, eingeschränkt waren. Eine Eltern-Kind-Bindung kann für das Kind unsicher sein, wenn es das Verhalten der Eltern nicht vorhersehen kann, wie es bei Traumatisierten oft der Fall ist. Von einem Moment auf den anderen können sie von der Vergangenheit überfallen werden – starr vor Angst, nicht mehr ansprechbar, oder aggressiv und unkontrolliert, von furchtbaren Erinnerungen überflutet.
    Die Versorgung eines Säuglings stellt auch psychisch stabile Eltern oft vor eine Zerreißprobe ihrer Belastbarkeit – traumatisierte Eltern bringt die erforderliche Einfühlung in die Bedürfnisse ihres Kindes in extreme Überforderung. Rena, eine Holocaust-Überlebende berichtet:
    »Ich hatte mir mein Kind so gewünscht. Aber es ging mir noch so schlecht damals. Ich hatte im Holocaust meine gesamte Familie verloren: meine Eltern, meine Geschwister, meine Großeltern. Als ich meine Tochter in den Armen hielt, musste ich immer wieder an die Toten denken. Wenn sie schrie, zog ich mich in mich zurück, ich konnte es nicht aushalten. Ich wollte sie versorgen, aber es war zu viel für mich, ihre wütenden Forderungen machten mir Angst. Es war zu viel.«
    Das Schreien eines hungrigen oder einsamen Säuglings führte bei Rena zu einer Reizüberflutung. Sie interpretierte das Schreien als wütende Forderung, und die Abhängigkeit ihres Kindes erinnerte sie unbewusst an ihre eigene Ohnmacht während des Holocaust. Nicht einmal ansatzweise hatte sie den Verlust ihrer Familie verarbeitet, und obwohl sie sich ihr Kind über alles gewünscht hatte, assoziierte sie das lebendige kleine Wesen eher mit dem Tod als mit dem Leben.
    Nicht nur die Versorgung eines abhängigen Säuglings, auch der Umgang mit dem heranwachsenden Kind war für die Überlebenden mitunter sehr schwierig, da die während des Holocaust lebensnotwendige psychische Abstumpfung auch Jahre später nicht nachließ. Seelische Wunden, die durch unmenschliche Gewalterfahrungen geschlagen werden, sind oft irreversibel und führen dazu, dass Traumatisierte sich nicht mehr auf emotionale Beziehungen einlassen können. Das, was sie sich einerseits wünschen – Geborgenheit und Sicherheit –, können sie andererseits nicht mehr leben, und mit dieser Realität wachsen ihre Kinder auf.
    Als ich 2003 mit den Forschungen für meine Dissertation über die Auswirkungen des Holocaust auf jüdische Frauen dreier Generationen begann und weltweit nach Teilnehmerinnen für meine Studie suchte, bekam ich viele Briefe von Töchtern und Enkeltöchtern von Holocaust-Überlebenden, die mir vorab ihre Erfahrungen schilderten. Shoshanna, eine israelische Tochter von Überlebenden, schrieb:
    »Ich leide unter schweren Depressionen, seit ich 16 Jahre alt bin. Ich spürte, dass das Leid meiner Eltern und Großeltern immer größer bleiben würde als mein eigenes. Mir wurde unterstellt, dass ich faul war. Die Wahrheit war: Ich war depressiv.
    Ich glaube, dass wir Kinder von Überlebenden alle eine enorme Schuld tragen, weil wir nicht so mutige Heldentaten erfüllt haben und nicht so viel über uns ergehen lassen mussten wie unsere Vorfahren. […]
    Meine Tochter ist nun 25 Jahre alt. Sie hat auch unter meinen Depressionen gelitten. Sie hat viel davon gehört, was meiner Mutter und meinem Vater zugestoßen ist, und es hat Auswirkungen auf sie gehabt.
    Ich heiratete und adoptierte vier Kinder in Israel. Dies war auch ein Versuch, um mein Leben heroisch zu gestalten. Ich habe alle vier Kinder den Depressionen und der Schuld ausgesetzt. Irgendwie, irgendwo ist das alles miteinander verbunden. Da gibt es keine sauberen Grenzen. […]
    Die Geschichten meiner Eltern und ihrer

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