Das bleibt in der Familie: Von Liebe, Loyalität und uralten Lasten (German Edition)
Rosa hatte das Gefühl, mit Jorge, der seit einiger Zeit arbeitslos war, ein drittes Kind erziehen zu müssen.
Ein schwerwiegendes Problem seien außerdem Jorges unkontrollierte Wutanfälle, mit denen er die Familie seit einiger Zeit in Angst und Schrecken versetze. Auf mein Nachfragen bejahte Jorge diese Vorfälle zwar, stellte sie aber harmloser dar als Rosa. Seine »Ausraster« hätten sich bisher nur auf Gegenstände bezogen, er habe noch nie gegen Rosa oder seine zwei Söhne die Hand erhoben. Rosa konnte mir bei meiner weiteren Detailsuche nicht mehr in die Augen schauen. Langsam entstand in mir der Eindruck, dass die beiden mir noch nicht alles erzählt hatten, dass es noch ein Geheimnis oder ein Tabu gab, das noch nicht ans Tageslicht gekommen war. Ich beobachtete Rosa, ob sie Anzeichen von Angst im Umgang mit Jorge zeigte, ob sie wagte, ihm zu widersprechen, ob sie zusammenzuckte, wenn er seine Stimme erhob, wie es bei Opfern von häuslicher Gewalt häufig der Fall ist. Nichts dergleichen konnte ich feststellen, und doch spürte ich, wie ich die Phantasie von gewaltvolleren Szenen als denen, die mir bisher geschildert worden waren, nicht abschütteln konnte.
Um meiner Vermutung auf den Grund zu gehen, lud ich beide zu den nächsten Sitzungen einzeln ein, um sie getrennt voneinander zu befragen und besser kennenzulernen, ohne durch die akute Paarproblematik gestört zu werden. In den Einzelgesprächen berichteten beide über das Ausmaß von Jorges Wutanfällen, während derer er mehrmals schon die Wohnung verwüstet habe. Hinterher habe es ihm leidgetan, und er habe versucht, die kaputten Gegenstände zu reparieren oder zu ersetzen. Jorge selbst war die Intensität seiner Wut mitunter unheimlich, und manchmal befürchtete er, sich in seiner Wut zu verlieren.
Meine Sorge, dass Jorge Rosa oder die Kinder schlagen würde, bewahrheitete sich nicht. Allerdings wurde es im Laufe der gemeinsamen Sitzungen immer schwieriger, mit Jorge verbindliche Lösungen zu finden. Er wirkte ungreifbar, war unkooperativ, schien sowohl Rosa als auch mir Schnippchen schlagen zu wollen. Vereinbarungen wurden zu aller Zufriedenheit getroffen, von Jorge jedoch vergessen oder bewusst nicht eingehalten, und auch seine Wutausbrüche wurden nicht weniger, sondern eher häufiger. Keine Abmachung war für ihn verbindlich, tatsächlich wirkte er auch auf mich immer mehr wie ein Kind, das Grenzen testete und auf elterliche Konsequenzen trotzig und extrem wütend reagierte. Rosa wurde immer mehr zur strafenden und kontrollierenden Mutter und trug somit zur Intensivierung der Dynamik bei. Ich konnte Rosas Frustration gut verstehen, auf der anderen Seite fragte ich mich, welche Zwänge Jorge dazu trieben, sich nicht festlegen zu wollen, und welch innere Not dahinterstecken mochte.
Ich war kurz davor, die Therapie wegen Jorges mangelnder Motivation abzubrechen, und schlug eher halbherzig vor, mit beiden noch ein Genogramm zu erstellen, also einen psychologischen Stammbaum, eine grafische Darstellung der jeweiligen Familie über die letzten drei Generationen hinweg.
Jorge wirkte so engagiert wie nie zuvor und bat mich, mit ihm und seiner Familiengeschichte anzufangen. Also zeichneten wir gemeinsam alle seine Familienmitglieder auf ein großes Blatt Papier. Ich bat ihn, mir zu jeder Person wichtige Hintergründe zu erzählen und wie das Thema des »Sichfestlegens« von anderen Familienmitgliedern gehandhabt wurde. Jorge stürzte sich in seine Aufgabe, erzählte alles, was er über seine Familie wusste, und kramte angestrengt in seinen Erinnerungen. Zu allen Familienmitgliedern fielen ihm Geschichten ein, und unter all den bunt beschriebenen Figuren blieb nur eine Person seltsam ungreifbar und konturlos: Jorges Großvater.
Zur nächsten Sitzung erschien Jorge niedergeschlagen. Er habe versucht, mit seiner Mutter und seiner Tante über seinen Großvater zu sprechen, und beide hätten ihn am Telefon abgewiegelt, da gäbe es nichts zu erfahren. Warum er sich denn auf einmal für die Vergangenheit interessieren würde? Der Großvater sei schon lange tot, aus, basta. »Irgendetwas stimmt da nicht«, mutmaßte Jorge. »Warum mauern die beiden so? Sonst quatschen sie mich immer stundenlang voll mit Familiengeschichten, wer geheiratet und wer Kinder bekommen, wer sich gestritten hat und so weiter. Und auf einmal das große Schweigen? Das verstehe ich nicht.«
Ich regte Jorge an, eigene Erinnerungen an den Großvater wachzurufen. Er sei gestorben, als
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