Das bleibt in der Familie: Von Liebe, Loyalität und uralten Lasten (German Edition)
Jorge neun Jahre alt war, deshalb habe er nur wenige, weit zurückliegende Erinnerungen. Alles am Großvater sei rau gewesen, seine Hände, seine Stimme, sein Auftreten. Irgendwie bilde Jorge sich heute ein, dass die anderen Angst vor ihm gehabt hätten, das sei aber nur eine Vermutung, es hätte nie jemand ausgesprochen.
»Haben Sie Angst vor ihm gehabt?«, fragte ich Jorge. – »Ich weiß es nicht mehr«, gestand er. Im Moment spüre er aber eine große Wut auf seine Mutter und seine Tante, die ihm Informationen über seinen eigenen Großvater vorenthielten. Die einzige andere Person, die er noch fragen könne, sei seine Großmutter, allerdings müsse dies warten bis zum nächsten Besuch in ihrer Heimat, sie sei schwerhörig, und am Telefon sei kein richtiges Gespräch möglich. Rosa und Jorge flogen alle zwei Jahre im Sommer mit ihren Söhnen in ihre südamerikanische Heimat, um die Familie zu besuchen. Glücklicherweise stand die nächste Reise in einigen Wochen an, und wir vereinbarten, Jorges Genogramm nach dem Besuch bei seiner Familie zu vervollständigen.
Kurz nach Rosas und Jorges Rückkehr aus Südamerika suchte das Paar mich wieder auf. Sofort begann Jorge, die Augen auf den Boden gerichtet, leise zu erzählen. Er habe seine Großmutter befragt. Nachdem er ihr klargemacht habe, dass er nicht lockerlassen würde und dass er in seinem eigenen Leben unglücklich sei und unter anderem herausfinden müsse, was für ein Mensch sein Großvater gewesen sei, begann diese eine schockierende Geschichte zu erzählen. »Mein Großvater war ein gewalttätiger Mann. Die Familie hat unter ihm gelitten, bis er etwas sehr Schlimmes getan hat. Er hat einen Mord begangen.« Jorge suchte meinen Blick: »Er hat einen bestialischen Mord an einem Fremden begangen, hat meine Großmutter erzählt. Er war damals 40 Jahre alt, so alt wie ich jetzt. Und dann war er zehn Jahre im Gefängnis, und nie hat jemand darüber geredet! Als er wieder rauskam, war er anders als vorher. Er hat nicht mehr gewagt, jemandem Gewalt anzutun, auch seine Frau und seine Kinder hat er in Ruhe gelassen. Meine Großmutter, meine Mutter und ihre Geschwister wollten die Vergangenheit vergessen. Sie haben so getan, als wäre nichts gewesen. Bald nach seiner Freilassung ist er gestorben, er ist nicht mal 60 Jahre alt geworden. Seine Kinder haben sich nach seinem Tod vorgenommen, dass es niemand erfahren soll. Die Gewalt, die sie erfahren hatten, und der Mord, den er begangen hatte, der ganze Schmerz und die Schande, die er über die Familie gebracht hatte, sollten mit ihm begraben werden. Seine Enkel sollten nicht erfahren, was passiert ist. Sie wollten uns schützen, sie haben so gelitten und sich geschämt.« Jorges Hände zitterten. »Und ich hab mich auch geschämt für meine Wutausbrüche. So zornig bin ich geworden, dass ich manchmal selbst Angst vor mir hatte. Dieser Zorn, diese Wut, ich hab gespürt, die kommt von irgendwoher, die kommt von außen, nicht aus mir selbst heraus. Madre mía, dieser Zorn, der gehört nicht mir … Das ist der Zorn meines Großvaters.« Als Jorge zu weinen begann, ging Rosa zu ihm hinüber und tröstete ihn.
»Er hat viel geweint in letzter Zeit«, sagte sie an mich gerichtet. »Aber ich bin froh, dass er dieses Geheimnis herausgefunden hat. Es ist, als ob er diese schlimme Seite von sich abgelegt habe, wie eine Häutung. Jorge war seitdem nicht mehr wütend. Stattdessen ist er sehr in sich gekehrt, ruhiger. Aber es ist etwas mit uns passiert. Ich verstehe ihn jetzt besser«, sagte Rosa. »Ja, ich verstehe mich jetzt auch besser«, sagte Jorge.
Es folgten noch einige sehr bewegende Sitzungen mit den beiden, in denen wir gemeinsam versuchten, den Geschehnissen der Vergangenheit einen Platz und einen Sinn zu geben. Jorges Wutanfälle und die damit verbundenen Verwüstungen waren erklärbar geworden: mit ihnen reinszenierte er unbewusst das Familiengeheimnis und konfrontierte sich selbst und auch seine Familie mit der verschwiegenen Gewalttat des Großvaters. Und auch seine Unfähigkeit, sich festzulegen, entpuppte sich im Licht der neuen Erkenntnisse als Strategie, etwas und andere »im Unklaren« zu lassen, also als eine Wiederholung der familiären Verschleierungsstrategie.
Es war Jorge wichtig, eine für ihn nachvollziehbare Erklärung für seinen Umgang mit Aggressionen und seine generellen Blockaden zu erhalten, und so beleuchteten wir den Einfluss des großväterlichen Verhaltens auf das gesamte Familiensystem:
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