Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das bleibt in der Familie: Von Liebe, Loyalität und uralten Lasten (German Edition)

Das bleibt in der Familie: Von Liebe, Loyalität und uralten Lasten (German Edition)

Titel: Das bleibt in der Familie: Von Liebe, Loyalität und uralten Lasten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Konrad
Vom Netzwerk:
furchtbaren Kindheiten in Hitlers Deutschland waren keine Kindheiten. Sie wurden ins Erwachsensein und in zu viel Verantwortung viel zu jung gedrängt. Sie haben extreme Verluste in einem zu jungen Alter erlitten. Sie haben uns, ihre Kinder, als vom Glück begünstigt wahrgenommen, als verwöhnte, faule Wesen, die keinerlei Leid erfahren haben.
    Die Wahrheit ist, wir haben gelitten. Und wir tun es heute noch.«
    Es ist, wie Shoshanna es beschreibt: Sowohl die Kinder als auch die Enkel von Holocaust-Überlebenden, sie alle sind in ihrer eigenen Seele, in ihrem eigenen Leben mit den Verletzungen ihrer Eltern und Großeltern konfrontiert. Kinder und Enkelkinder von Überlebenden messen ihre eigenen Probleme oft an den Erfahrungen ihrer Vorfahren. Manchmal ziehen sie Kraft daraus, dass ihre Vorfahren ihre schlimmen Erfahrungen überlebt haben. Oft jedoch führt dieser Vergleich zu Schuldgefühlen und einer Bagatellisierung des eigenen Kummers. Der Maßstab ist Leben und Tod, die Grautöne im eigenen Leben werden weggewischt, Gefühle werden unterdrückt. Als Kind traumatisierter oder psychisch kranker Eltern aufzuwachsen bedeutet, die eigenen Anliegen oft zurückstellen und sich stattdessen um die Eltern kümmern zu müssen. Kinder von Holocaust-Überlebenden fühlten sich dafür verantwortlich, ihre Eltern vor weiterem Kummer zu beschützen. Ein hohes Maß an Loyalität und stark auftretende Trennungsängste der Eltern erschwerten die Ablösung der zweiten Generation und erhielten die familiäre Verstrickung aufrecht.
    Die Erkenntnisse von Überlebendenfamilien lassen sich auch auf andere traumatisierte Familien übertragen. Jede psychische Erschütterung, die in einem Leben nicht zu verarbeiten war, wird sich im Leben der nächsten Generation widerspiegeln – Kriegserfahrungen, Flucht und Migration, Verbrechen, Gewalt, schwere Ungerechtigkeiten, Schuld und Scham. Jeder biografische Bruch, jede massive emotionale Verletzung wird weitergegeben: über Bindungserfahrungen, über die in der Familie erzählten Geschichten und zu großen Teilen auch über die verschwiegenen.
    Familiäre Geschichtsschreibung – Was erzählt und was verschwiegen wird
    »Jeder Mensch erfindet sich früher oder
später eine Geschichte, die er für sein Leben hält.«
    MAX FRISCH , Mein Name sei Gantenbein
    Familien spinnen ihre eigene Vergangenheit, entscheiden, was wem wie erzählt wird, was verschwiegen wird und nie wieder ans Tageslicht kommen soll. Besonders schuld- und schambesetzte Themen werden in Familien gern verschwiegen oder bis zur Unkenntlichkeit verändert. Aus verrückten Verwandten werden exzentrische Künstlertypen, aus dem alkoholkranken Vater ein Genießer, aus dem kriminellen Bruder ein Weltenbummler, der sich oft im Ausland aufhält, während er in Wirklichkeit eine Gefängnisstrafe verbüßt.
    Nun könnte man meinen, dass der Spruch »Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß« auch für die familiäre Vergangenheit gelten könnte. Dass dem nicht so ist, beweisen die Phantasien von Nachkommen, die der verschwiegenen oder verdrehten Vergangenheit oft erschreckend nahe kommen – und ganze Lebensläufe, die unbewusst darauf ausgerichtet sind, das alte Geheimnis, die alte Lüge wieder ans Tageslicht zu befördern.
    Familienmythen oder »Opa war kein Nazi«
    »Und er kommt zu dem Ergebnis:
    Nur ein Traum war das Erlebnis.
    Weil, so schließt er messerscharf,
    nicht sein kann, was nicht sein darf.«
    CHRISTIAN MORGENSTERN ,
»Die unmögliche Tatsache«
    Familienmythen haben verschiedene Funktionen, meist haben sie einen Appellcharakter, wie der Einzelne und wie die Familie sein soll. Mythen transportieren weniger Wahrheit als Ideale, genauer gesagt, das jeweilige Familienideal: Die Meyers sind erfolgreich. Die Schmidts sind politisch engagiert. Die Försters konservativ. Und Familie Müller ist besonders aufopferungsbereit. Familiäre Geschichtsschreibung, so lückenhaft und selektiv sie auch sein mag, stärkt sowohl die Identität als auch das Zusammengehörigkeitsgefühl untereinander.
    Im Laufe der Zeit entsteht ein Familiengedächtnis, das bestimmte Teile der Vergangenheit erinnert, während es andere vergisst, um den Fluss der Familiengeschichte nicht zu stören. Familienmythen dienen nämlich oftmals dazu, unangenehme Realitäten zu verschleiern und Sachverhalte umzudrehen, ihnen eine gänzlich andere emotionale Färbung zu geben.
    In Deutschland wurde die familiäre Erzähltradition durch die nationalsozialistischen

Weitere Kostenlose Bücher