Das Blumenorakel
Ja, das war sie gewesen.
Sie spürte Tränen aufsteigen und wedelte hilflos mit ihrer Hand vor dem Gesicht herum, als müsse sie im nächsten Moment niesen. Der Richter lieà sich nicht täuschen.
»Junge Frau, warum weinen Sie? Ja, aber â¦, wieso rennen Sie davon? Bleiben Sie, ich muss doch noch die Blumen bezahlen und â« Fassungslos schaute der Oberamtsrichter auf sein Blatt Papier. »So schlecht ist das Gedicht auch wieder nicht geworden â¦Â«
Raus! Nur raus aus der Stadt! Weg von den Blicken der Leute. Flora nahm die erste Brücke, die über die Oos führte. Was sie dabei nicht bedachte, war, dass ihr Weg sie an der Trinkhalle vorbeiführen würde.
Beim Anblick der Säulen schluchzte sie erneut los.
Merline, die Verführung in Person.
Kuckucksspucke, was hatte sie nur getan â¦
Als sie damals in der Stadt angekommen war, hatte Friedrich ihr bei ihrem ersten Spaziergang gleich sein Heiligtum gezeigt. Flora erinnerte sich daran, als wäre es gestern gewesen. Sie beide vor dem Wandgemälde von Merline â die Sonne in ihrem Rücken, sein Lachen in ihrem Ohr. Er hatte es genossen, für sie den Stadtführer zu spielen. Was hatte sie zu ihm gesagt, als er ihr die Sage erzählte?
»Bei uns hätte diese Merline keine Chance!«
Welch ein Hohn.
Was hatte sie nur getan?
Leichtfertiger als jeder Ziegenhirte hatte sie sich verführen lassen! Hatte sich Gelüsten hingegeben, von denen sie bisher nicht einmal gewusst hatte, dass es sie gab.
Die Schamesröte stieg ihr ins Gesicht, wenn sie daran dachte, wie sie sich an Konstantin gedrängt hatte â wie eine Katze, die nach Liebkosungen giert. Regelrecht bedrängt hatte sie ihn! Sie war nicht besser als die Kokotten, für die Friedrich nur einen abfälligen Blick übrig hatte.
Es hätte gar nicht passieren müssen. Sie hatte die Bedrohung, die Konstantin Sokerov für sie darstellte, tief in ihrem Inneren gespürt, immer wieder, seit Wochen schon. Jede zufällige Berührung, jeder hingehauchte Handkuss von Konstantin hatte auf ihrer Haut gebrannt wie ein aufloderndes Feuer. Sogar Sabine hatte etwas geahnt, hatte auf ihre Art mehrmals versucht, sie zu warnen. Aber sie, Flora, hatte es vorgezogen, Augen und Ohren zu schlieÃen und sich dem wohligen Kribbeln in ihrem Bauch hinzugeben.
Abrupt blieb Flora stehen, schaute auf das langgezogene Gebäude, auf das jetzt, am späten Vormittag, immer mehr Spaziergänger zustrebten. Sollte sie zu Friedrich gehen, ihm alles beichten, jetzt sofort, auf der Stelle?
Die schreckliche Szene in der Villa Markow, dazu die Nachricht von Püppis Tod â sie war nicht bei Sinnen gewesen gestern! Ja, sie war nicht einmal sie selbst gewesen. Das Unaussprechliche war in Wahrheit gar nicht ihr geschehen, sondern einer Fremden â¦
Kuckucksspucke, wie sollte sie Friedrich erklären, was ihr selbst unerklärlich war? Was erwartete sie von einer Beichte? Dass es ihr ums Herz leichter wurde? Erwartete sie Vergebung? Welcher Mann würde so etwas vergeben? Wenn sie sich nicht täuschte, stand auf Ehebruch sogar eine Gefängnisstrafe, ha, sie hätte den Richter gleich danach fragen können! Die Leute würden mit dem Finger auf sie zeigen, man würde sie ächten wie diese Marie-Eluise, die Frau des Hotelwirts, von dem Friedrich erzählt hatte. Wie eine schlecht geführte Marionette stakste Flora den Fluss entlang, holte tief Luft, wischte sich den Rotz aus dem Gesicht, die Haare aus der Stirn.
Nie und nimmer durfte sie auch nur ein Sterbenswörtchen über den gestrigen Tag verlieren. Was geschehen war, musste sie in ihrem Gedächtnis für immer und ewig auslöschen. Tief drinnen in ihrem Herzen würde sie diese Sünde mit sich tragen. Und die Erinnerung â¦
Mit einem kurzen Pfiff rief Konstantin eine der Droschken herbei, die vor dem Baden-Badener Bahnhof auf Fahrgäste warteten. Kurz darauf lehnte er sich wohlig aufseufzend in die dicken Polster zurück. Wenn es sich vermeiden lieÃ, würde er Baden-Baden bis zum Ende der Saison nicht mehr verlassen.
Karlsruhe war eine prachtvolle Stadt, aber die laute Betriebsamkeit hatte ihn doch sehr angestrengt. Offenbar war er solchen Trubel nicht mehr gewohnt.
Seine Hand tätschelte die lederne Tasche auf dem Sitz neben ihm. Immerhin hatte sich die Fahrt gelohnt â¦
Der Juwelier hatte gut bezahlt für
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