Das Blumenorakel
Und sag Ernestine, dass sie Alexander nach seinem Mittagsschlaf füttern soll«, rief sie Sabine zu. Dann stürzte sie los.
Ohne nach links und rechts zu schauen, rannte Flora in Richtung Trinkhalle. Was will ich hier?, fragte sie sich, als sie schlieÃlich atemlos vor dem langgezogenen Bau stand. Es war nicht Friedrich, zu dem es sie hinzog. Sie wollte allein sein. Allein mit sich und ihren schändlichen Gedanken und Gefühlen.
Tränen liefen ihr übers Gesicht, als sie wie ein Dieb an der Trinkhalle vorbeischlich und den Michaelsberg hinaufstapfte. Obwohl die Sonne schien, war es ungewöhnlich ruhig auf dem parkartig angelegten Hügel. Nur hie und da waren zwischen den Bäumen vereinzelte Spaziergänger zu sehen. Wahrscheinlich drängte sich wieder einmal alles auf der Promenade oder in der Allee! Flora war dies nur recht. Mit zittrigen Beinen stieg sie den Berg hinauf.
Hier auf dieser Bank hatten Friedrich und sie in ihrem ersten Sommer oft gesessen. Warum fühlte sie nichts bei diesem Gedanken?
Hier auf diesen Wegen waren sie allabendlich spazieren gegangen. Lange hatte es gedauert, bis sich Friedrich endlich getraut hatte, ihre Hand zu nehmen.
Hatte ihr Herz damals schneller gepocht? Hatte sie ein seltsames Gefühl in ihrer Magengegend gespürt? Sie konnte sich nicht daran erinnern.
Flora blinzelte, als zwischen den Bäumen die kuppelförmige Stourdza-Kapelle auftauchte. Ein rumänischer Fürst habe sie zu Ehren seines verstorbenen Sohnes erbauen lassen, hatte Friedrich ihr einst erklärt, den Entwurf dazu habe ein berühmter Münchner Baumeister geliefert.
Ach Friedrich â¦
Warum schlug ihr Herz nicht schneller, wenn sie an ihn dachte?
Warum tat es das umso mehr, wenn Konstantin durch ihre Gedanken huschte? Ihn brauchte sie nur anzuschauen, und schon vergaà sie alles um sich herum. Auch vorhin war sie fast wieder schwach geworden, hätte sich am liebsten an ihn gedrängt, seinen muskulösen Oberkörper an ihren Brüsten gespürt, seine Hände, die ihre Schenkel hinaufwanderten ⦠Schluchzend sank Flora unter dem Vordach der Grabkapelle nieder, schlug mit ihrer geballten Faust auf den Boden, als könne sie so ihre Liebe zu Konstantin zerschlagen.
Liebe? War es das wirklich?
Oder war es nur Begierde? Eine Art Krankheit?
Flora hoffte so sehr, dass das zweite zutraf, denn Krankheiten konnte man heilen, nicht wahr?
»Lieber Gott, lass mich stark sein! Ich flehe dich an. Ich werde BuÃe tun, sag mir, was ich tun soll, bitte. Aber gib mir meinen Frieden wieder! Ich verspreche, ich werde eine gute Ehefrau und Mutter sein â¦Â«
Ihre Worte wurden von dem kuppelförmigen hohen Gebäude zurückgeworfen, ihre Stimme klang seltsam hohl.
Sollte sie nach Gönningen fahren? Würde sie dort geheilt werden? Nein. Sie musste allein Stärke zeigen, hier. Nicht mehr leicht zu verführen sein wie eine Hure. Sie würde heimgehen zu Mann und Kind, jetzt gleich!
Ja, das würde sie tun.
Vielleicht, wenn sie sich anstrengte, eine gute Ehefrau zu sein, würde es ihr gelingen, Friedrich irgendwann wieder in die Augen schauen zu können. Vielleicht, wenn sie wirklich stark blieb, würde es ihr irgendwann beim Blick in den Spiegel nicht mehr elend werden vor lauter Scham.
Ein letztes Mal schaute sich Flora in der Grabkapelle um.
Bitte lieber Gott, gib mir die Kraft und den Mut â¦
Dann stand sie mit den Bewegungen einer alten Frau auf, wischte sich übers Gesicht, strich sich den Staub vom Rock.
In der Ferne schlugen die Kirchenglocken vier Uhr.
»Also wirklich, die Kunden werden immer unverschämter. Dich so in Beschlag zu nehmen! Gleich ist es schon sieben!« Ernestine schüttelte so heftig den Kopf, dass eine ihrer Haarnadeln auf den Boden fiel.
Flora kniete sich hin, um die Nadel aufzuheben. »Seid ihr ohne mich zurechtgekommen?« Aus dem Augenwinkel sah sie Sabine im Türrahmen stehen, die sie mit hochgezogenen Augenbrauen kritisch musterte.
Flora gab Ernestine die Haarnadel, dann trat sie einen Schritt zurück, bevor Sabine den Duft der Liebe, der Flora umwehte wie süÃestes Parfüm, in die Nase bekam. Sieh mich nicht so vorwurfsvoll an!, hätte sie die Magd am liebsten angeschrien. Ich weià selbst, dass das, was ich mache, falsch ist! Ich weiÃ, dass es ein Spiel mit dem Feuer ist! Aber es ist ⦠eben nur ein Spiel. Und ich kann einfach nicht anders.
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