Das Blumenorakel
Weder gute Worte noch Drohungen seitens Ernestines hatten sie umstimmen können.
Unruhig suchten Ernestines Augen den Berg aus Küchenabfällen, verfaulten Blumen, Laub und Erde ab. Hoffentlich hatte sich Sabine verguckt und die vermeintliche Ratte war nur ein kleines Mäuschen!
Hatte Flora bei ihren Gartenarbeiten auch Angst vor Nagern gehabt? Ernestine hatte sie nie danach gefragt. Im Grunde hatte nie jemand gefragt, wie es Flora ging.
Was hatte sie eigentlich getan, um Flora bei ihren tausend Aufgaben zu helfen? Die Frage tauchte nicht zum ersten Mal in Ernestines Kopf auf, und die Antwort war jedes Mal niederschmetternd: nicht sehr viel.
Dafür hatte es bei ihr ständig geheiÃen: der gute Bub hier, der gute Bub da. Immer nur der Bub.
»Jeder dritte Satz von dir handelt von deinem Sohn und seinen Heldentaten in der Trinkhalle«, hatte Gretel Grün sie einmal getadelt. »So interessant ist seine Arbeit nun auch wieder nicht!« Ernestine war hell entsetzt gewesen. Wieso konnte die Freundin nicht verstehen, dass Friedrichs Glück und Zufriedenheit ihr sehr am Herzen lagen?
Friedrich hier, Friedrich da. Genau wie es all die Jahre zuvor geheiÃen hatte: Kuno hier und Kuno da. Und wie hatte der es ihr gedankt?
Ach, hätte sie sich doch ein paar Gedanken mehr um Flora gemacht!
Vielleicht wäre ihr dann aufgefallen, dass jemand dem Mädchen den Kopf verdreht hatte. Und vielleicht hätte sie Flora dann vor dieser schrecklichen Entwicklung retten können.
»Mutter?«, ertönte es direkt hinter ihrer Schulter. Abrupt fuhr Ernestine herum und schrie vor Schreck auf. »Kuno ⦠Gütiger Gott, Friedrich, musst du dich so anschleichen? Einen Moment lang habe ich tatsächlich gedacht, du wärst â« Sie winkte ab. Wie blass er aussah! Die dunklen Schatten unter seinen Augen. Der leere Blick. Und wie gebeugt er daherkam.
»Mutter, was machst du denn hier?«
»Ich erledige deine Arbeit und setze den Kompost um«, entgegnete sie scharf. Sah er das nicht? »Auf diesen riesigen Berg kann unmöglich auch noch das Laub gekippt werden.« Missmutig schweifte ihr Blick die Hecke entlang. »Ich frage mich, warum es die Natur so eingerichtet hat, dass die Bäume und Sträucher im Herbst ihr Blattwerk abwerfen.«
Friedrich runzelte die Stirn. »Ehrlich gesagt interessiert es mich nicht im Geringsten, was die Natur eingerichtet hat. Ich hätte mich schon um den Garten gekümmert, aber scheinbar konntest du das nicht abwarten.« Er zuckte mit den Schultern. »Am besten hörst du wieder auf, diese Arbeit ist doch nichts für dich! Du hast schon einen ganz roten Kopf.«
Einen Moment lang war Ernestine sprachlos, ihre Lippen öffneten und schlossen sich wieder wie bei einem Karpfen.
Sie hatte einen roten Kopf? Mehr fiel Friedrich nicht ein?
Ernestine wurde von solch einer Wut gepackt, dass sie ihrem Sohn am liebsten eine Ohrfeige versetzt hätte.
»Ich möchte mal wissen, was dich überhaupt noch interessiert!« Ihre Stimme durchschnitt die herbstliche Stille wie ein Messer die weiche Butter. »Alles ist dir egal! Wie lange willst du dich eigentlich noch so gehenlassen?«
»Ich weià nicht, wovon du sprichst«, sagte er gepresst.
»O doch, Junge, das weiÃt du sehr wohl. Es ist jetzt fast zwei Monate her, dass Flora uns verlassen hat. Acht Wochen, in denen du so gut wie gar nicht am Leben in diesem Haus teilgenommen hast. Denkst du allen Ernstes, du bist der Einzige, der leidet? Glaubst du, Alexander vermisst seine Mutter nicht? Glaubst du, ich vermisse sie nicht? Flora war wie eine Tochter für mich,ständig muss ich an sie denken â¦Â« Ernestines Wut verpuffte. Sie blinzelte heftig und der Muskel unter ihrem rechten Auge begann nervös zu zucken. »Wie es ihr wohl geht?«
»Wie schön, dass du an sie denkst«, erwiderte Friedrich trocken. »Nur zur Erinnerung â sie ist eine Ehebrecherin!«
»Ach Bub, natürlich weià ich, dass Flora groÃe Schuld auf sich geladen hat. Aber sind wir anderen deshalb völlig ohne Schuld?« Ernestine lehnte sich schwer auf ihre Harke. Traurigkeit durchströmte sie wie Gift und raubte ihr plötzlich jede Kraft.
Friedrich lachte bitter auf. »Deine schlauen Reden kommen ein bisschen spät. Hättest du mir damals gleich von Sybilles Brief erzählt und nicht erst vor Kurzem, wäre vielleicht alles gar nicht
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