Das Blumenorakel
Bemerkung wagte sie es nicht mehr â der missbilligende Unterton in seiner Stimme war nicht zu überhören gewesen.
War ihm solcher »Luxus« grundsätzlich zuwider? Oder konnte er ihn sich einfach nicht leisten?
Seit ihrer Ankunft im Hause Sonnenschein war zumindest keine einzige Flasche Wein geöffnet worden, auch andere Leckereien gab es nicht â stattdessen hatte Sabine Mühe, die Familie vom Haushaltsgeld überhaupt satt zu kriegen.
Unauffällig schaute Flora zu Friedrich hinüber. Er sah blass und fast ein wenig kränklich aus. Gegen Hunger halfen seine »heiligen Wässer« also scheinbar nicht â¦
Wie luxuriös ging es dagegen bei ihnen zu Hause zu, wo der Vater ständig feine Dinge â Nougat, Honig, kandierte Veilchen und mehr â von seinen Reisen mitbrachte. Hungern musste bei ihnen jedenfalls niemand.
Erneut wehte eine Wolke Kaffeeduft auf den Kiesweg herüber. Und die Törtchen, die die Serviermädchen auf schneeweiÃem Geschirr daherbrachten, sahen einfach köstlich aus! Flora lief das Wasser im Mund zusammen.
Während Friedrich sie weiterzog, warf Flora einen letzten, fast neidischen Blick zurück. Am äuÃersten Rand der vielen Tische saÃen Gäste an einer langen Tafel. Gleich drei Serviermädchen eilten um die Gruppe herum und schleppten schwerbeladene Tabletts. Die Damen trugen farbenfrohe Roben und prosteten mit üppig beringten Händen den Herren zu. Eine ältere Frau in giftgrünem Kleid fütterte ihr Hündchen mit einem Löffel Sahne â wie unappetitlich!
Flora zupfte Friedrich am Ãrmel und machte ihn auf die Gruppe aufmerksam. »Wo kommen diese Leute wohl her? Es hört sich an, als würden sie verschiedene Sprachen sprechen.«
»Das sind wahrscheinlich Russen, und viele von ihnen sprechen sehr gutes Französisch«, erwiderte Friedrich.
Flora hob die Augenbrauen. Ihr Herr Stadtführer schien wirklich auf jede Frage eine Antwort zu haben.
Dieser Trubel hätte ihren Eltern auch gefallen, dachte sie. Im Geist sah sie den Vater unter einer der riesigen Kastanien sitzen und Bier trinken, die Mutter hingegen würde an einem Wein nippen. Das hätten sich die Eltern bestimmt gegönnt â¦
Sie sammelte Spucke in ihrem Mund, um gegen den Durst anzukämpfen, und sagte dann: »Die Kurgäste scheinen alle so fröhlich zu sein, dass man richtig Lust zum Mitfeiern bekommt. Und alle sind so gut gekleidet. Schauen Sie doch nur!« Sie zeigte auf drei Mädchen, die ungestüm neben einer Gouvernante herliefen. Ihre Kleider schienen aus vielen Spitzenbahnen zu bestehen, die allesamt über und über mit farbigen Glasperlen bestickt waren. Die Zöpfe der Mädchen wurden mit dicken Schleifen aus dem gleichen Stoff zusammengehalten. In solch aufwändiger Aufmachung konnte man doch nicht spielen! Nicht über Pfützen springen oder mit Murmeln schieÃen oder einen Kreisel tanzen lassen â¦
Flora hatte ihren Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, als sich das kleinste der Mädchen plötzlich von der Hand ihrer Gouvernante losriss und auf einen der Schwäne zustürzte, die es sich etwas abseits des Spazierweges im Gras gemütlich gemacht hatten.
» Lebed! Lebed! Lebed! «, rief das Kind immer wieder, während die Gouvernante vor Schreck wie angewurzelt stehen blieb. Beide Hände vor den Mund geschlagen, schaute sie mit groÃen Augen zu, wie nun auch die beiden anderen Mädchen auf den Schwan zurannten und ebenfalls » lebed! « riefen.
Warum läuft die Gouvernante ihren Schützlingen nicht hinterher?, fragte sich Flora. Sie muss doch wissen, dass Schwäneschnell einmal aggressiv reagieren! Eilig stellte sich Flora den Kindern in den Weg, während sich der Schwan prompt erhob und beängstigende Zischlaute von sich gab.
»Friedrich, der Schwan hat Küken!« Aufgeregt wies Flora in Richtung der kleinen Vogelschar, die unter den weit ausgebreiteten Flügeln zum Vorschein gekommen war.
Friedrich rannte bereits los.
Wild mit den Flügeln schlagend und mit weit aufgerissenem Schnabel stürzte der groÃe Vogel dem kleinsten Kind entgegen, während seine Küken hektisch fiepend auseinanderstoben.
Das Kind stand reglos da. Kein Laut kam mehr über seine Lippen. Einen Moment lang hoffte Flora, das Tier möge es sich angesichts dieser Wehrlosigkeit anders überlegen â doch
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