Das Blumenorakel
aufgenommen?« Er zeigte auf das übergroÃe Glas, das die Frau in ihrer freien Hand hielt.
Während sie einen kräftigen Schluck Heilwasser nahm und Friedrich ihr wohlwollend dabei zuschaute, nutzte Flora die Gelegenheit, um ihr Glas unauffällig hinter ihrem Rücken auszukippen. Kuckucksspucke â wie konnte man sich von diesem Wasser freiwillig so viel einschenken?
»Lieber Mister Sunshine, Sie glauben ja nicht, wie froh ich bin, nach dem tristen englischen Winter endlich wieder hier sein zu dürfen!«, sagte die Frau und ihre rot geäderten Wangen wurden noch eine Spur röter dabei.
Mister Sunshine  â wie lustig das klang! Flora musste ein Kichern unterdrücken. Die Frau war also Engländerin. Eigentlich hätte Friedrich uns bekannt machen können, dachte Flora bei sich. Stattdessen lauschte er der Dame hingerissen.
»Der Morgen beginnt mit einem strammen Marsch«, erzählte diese gerade. »Danach folgen körperliche Ertüchtigungsübungen. Nach dem Frühstück steht alltäglich der Besuch der Trinkhalle auf meinem Plan, dann gehts weiter in die Badeabteilung meines Hotels, dann â¦Â«
»Und was ist mit den Kneippâschen Güssen?«, unterbrach Friedrich den Redefluss. »Haben Sie die etwa dieses Jahr aufgegeben?«
»Von wegen! Damit und mit einem ordentlichen Glas Brandy beende ich meinen Tag. Sie werden sehen, am Ende des Sommers bin ich wie neugeboren«, bekam er dröhnend zur Antwort.
Etwas verwirrt stimmte Flora in das Lachen der beiden ein. Wovon redeten sie bloÃ?
»Lady Lucretia gehört zu unseren langjährigen Stammgästen«, erklärte Friedrich ihr, als sie wieder allein waren. »Sie hat ein schwaches Herz, weshalb ein Arzt ihr einst zu einer Kur riet. Seitdem kommt sie jedes Jahr nach Baden-Baden. Und im Gegensatz zu den meisten anderen Kurgästen ist es ihr in Bezug auf die Gesundheit wirklich ernst. Schon vor Jahren hat sie mich um eine Analyse unserer Quelle gebeten, und seit sie sich von der hervorragenden Qualität unseres Heilwassers überzeugt hat, gehört die Trinkkur fest zu ihrem Kurtag dazu. Lady Lucretia ist wirklich ein gutes Exempel dafür, wie wohltuend unsere Wässer sind â¦Â« Friedrich zupfte ein paar Blätter von einem Busch und zerrieb sie gedankenverloren zwischen seinen Fingern.
Schwaches Herz? Auf Flora hatte die Dame einen äuÃerst robusten Eindruck gemacht â¦
Abrupt warf Friedrich die Blattschnipsel weg. »Es müsste mehr von dieser Art Kurgäste geben! Aber die meisten Leute, die eine Trink- und Badekur nötig hätten, können sie sich nicht leisten. Arme Fabrikarbeiter, die zwölf Stunden am Tag eine Maschine bedienen müssen. Oder Bergleute, deren Lungen kaputt sind von der Arbeit unter Tage.«
Flora schaute Friedrich schräg von der Seite an. So bitter hatte er bisher noch nie geklungen. Arme Fabrikarbeiter â die konnte sie sich hier beim besten Willen nicht vorstellen!
»Da werden gerade ein paar Plätze frei«, sagte sie und zeigte auf die Stühle, die vor dem Conversationshaus rund um eine kleine Bühne im Halbkreis aufgestellt waren. Laut Friedrich fanden hier mehrmals täglich Freiluftkonzerte für die Kurgäste statt. Auch Flora war bei ihren Spaziergängen mit Sabine schon des Ãfteren vorbeigekommen, während ein Konzert gegeben wurde â sich einfach dazuzusetzen hatten sich die jungen Frauen jedoch nicht getraut.
Ein paar Minuten lang lauschten sie der Marschmusik, die gerade gespielt wurde. Flora versuchte unterdessen unauffällig, mit etwas Spucke und einem Zipfel Taschentuch die weiÃen Staubränder, die wegen der Kieswege auf ihren Schuhen zu sehen waren, zu entfernen. Ihr taten die FüÃe weh und sie wäre gern noch ein bisschen sitzen geblieben, aber Friedrich stand schon wieder auf â er wollte ihr noch viel zeigen!
»Wie es aussieht, haben die Leute auch nach dem Krieg nochgenügend Geld zu verprassen.« Friedrich nickte in Richtung der StraÃencafés, deren Tische zur Mittagszeit allesamt besetzt waren. Gerade stritten sich ein Maharadscha mit Turban und ein schwarzer Mann um den letzten Tisch.
Staunend verfolgte Flora das Palaver. Einen Menschen mit so dunkler Haut hatte sie noch nie gesehen.
Eigentlich hatte sie Friedrich fragen wollen, ob sie nicht auch eine Tasse Kaffee trinken konnten, aber nach seiner
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