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Das Blut der Lilie

Titel: Das Blut der Lilie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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schwor, Rache zu nehmen.
    Sie verschwand, und ich trat auf. Meine Aufgabe war es,
zwischen den Akten das Publikum zu unterhalten. Wie ich das hasste – für jedes
Stinkmaul, für jeden Nasenbohrer und jeden Trottel mit einem Sou in der Tasche,
den Clown zu spielen. Ich trug immer Reithosen und Weste für diese Auftritte,
trotz der Einwände meines Onkels. Er wollte, dass ich ein tief ausgeschnittenes,
eng geschnürtes rotes Kleid anzog, aber es war ja nicht sein Hintern, den die
Männer begrapschten. Während ich sang und tanzte, wurden die Kulissen umgebaut
und die Marionetten bereitgestellt. Wenn der Vorhang aufging, trat ich ab.
    Gretel, inzwischen wieder übers ganze Gesicht strahlend
und honigsüß zwitschernd, serviert Kasperle ein Bohnengericht. Es ist schlecht
zubereitet und verursacht Blähungen. Sein Bauch pumpt sich auf. Die Menge
johlt, als er mit seinen Flatulenzen den Bohnentopf vom Tisch und Gretel zum
Fenster hinaus bläst. Dann bläst er den Nachbarshund auf einen Baum. Der
Nachbar beschwert sich und der Polizist kommt. Kasperle bläst den Polizisten in
den Kamin hinauf, den Richter aus seinem Gerichtssaal, den Henker vom
Schaffott. Die ungehörigen Geräusche machte mein Onkel mit Mund und Händen.
    Von dem Applaus angezogen, kamen immer mehr Leute, um
uns zuzusehen. Dann rollte eine prächtige weiße Kutsche auf den Platz und hielt
an. Die Fenster gingen auf. Ich blickte auf die Passagiere und mir gefror das
Blut. Ich kannte sie. Ich hatte auf den Flugblättern Bilder von ihnen gesehen.
Es waren der König, die Königin, ihre Tochter Marie-Thérèse und Madame
Elizabeth, die Schwester des Königs.
    Nur ein Monat war vergangen, seitdem der älteste Sohn
des Königs gestorben war. Als ich die vier nun, steif und hoch aufgerichtet, in
ihrer Kutsche sitzen sah, war ich mir sicher, man würde uns bestrafen, weil wir
Späße machten, während sie trauerten. Man würde uns in ein Verlies werfen und
dort verrotten lassen. Ich stand vollkommen still, wagte kaum zu atmen, und
wartete auf die strenge Stimme, die unsere Festnahme befahl. Doch was ich
schließlich zu hören bekam, klang süß und zart. Der Klang von Lachen,
Kinderlachen.
    Und dann hörte ich ein Stimmchen, das sagte: Mama, hast
du das gesehen? Kasperle hat den Hund des Mannes auf den Baum geblasen! Wie
ungezogen diese Marionetten sind!
    Ein kleiner Junge, den ich erst nicht gesehen hatte,
stand am Kutschenfenster. Es war Louis Charles, der jüngere Bruder des
verstorbenen Dauphins und jetzt selbst Thronfolger. Er war hübsch und sauber
und unterschied sich von meinen dreckigen, brüllenden Brüdern wie ein Schwan
von einer Krähe.
    Als die Vorstellung vorbei war, wurde ich zu der
Kutsche gerufen. Unter tausend Verbeugungen näherte ich mich. Louis Charles
lehnte sich aus dem Fenster und gab mir eine Goldmünze. Ich dankte ihm und
verbeugte mich erneut. Da ich wusste, dass ich der königlichen Familie nicht den
Rücken zuwenden durfte, trat ich einen Schritt zurück, das Gesicht noch immer
nach vorn gerichtet. Als ich meinen Fuß abstellte, ertönte ein ohrenbetäubend
donnernder Furz. Ich trat wieder einen Schritt zurück, und ein weiterer Furz
ertönte. Es war mein gieriger Onkel, der verdammt sein soll. Er hätte mich ohne
Bedenken einem Henker überlassen, wenn er sich damit ein paar weitere Münzen
ergattert hätte.
    Der König riss die Augen auf. Die Königin drückte die
Hand an die Brust. Die Menge schwieg. Keiner wagte zu lachen. Ich machte noch
einen Schritt, setzte aber den Fuß nicht gleich ab, weshalb jeder in der Menge
auf das Geräusch wartete, denn niemals, selbst unter Androhung des Todes nicht,
hätte ich der Verlockung eines Applauses widerstehen können.
    Ich stellte den Fuß ab, das ungehörige Geräusch
ertönte, und im selben Moment das Kichern des Dauphins. Das war es, was ich
beabsichtigt hatte. Wie von Sinnen hüpfte ich vor und zurück und zwang meinen
Onkel, mit mir im Takt zu bleiben. Ich sprang in der Menge umher, kreiselte und
wirbelte herum, hopste auf den Schoß eines dicken Mannes und tanzte eine laute,
flatulierende Hornpfeife als Finale.
    Die Leute klatschten wie wild, als ich geendet hatte.
Ein ganzer Schauer aus Münzen regnete auf mich herab, aber würde ich lange
genug leben, um sie ausgeben zu können? Ich drehte mich zu der Kutsche um.
Madame Elizabeth

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