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Das Blut der Lilie

Titel: Das Blut der Lilie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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Dritter in der Thronfolge, sei unter ihnen.
    Nachdem der König, erzürnt über die Abtrünnigen, diese
aus ihren Versammlungsräumen ausgesperrt habe, hätten sie sich stattdessen in
einem Ballhaus getroffen und geschworen, sich nicht zu trennen, bevor sie nicht
eine Verfassung konstituiert hätten. Der König habe Soldaten geschickt, um sie
auseinander zu treiben, aber sie hätten sich nicht einschüchtern lassen. Graf
Mirabeau habe sich auf einen Stuhl gestellt und gerufen: Sagt eurem Herrn, wir
sind hier durch den Willen des Volkes und werden nur der Macht der Bajonette
weichen!
    Das war eine mutige Tat, sagte Levesque, wenn auch eine
sehr törichte. Mirabeau hätte dafür erschossen werden können. Aber das geschah
nicht, und zum maßlosen Erstaunen aller gab nicht Mirabeau, sondern der König
nach.
    Der Sommer schritt voran. Die Temperatur stieg, und die
Gemüter erhitzten sich immer mehr. Eine weitere Theatertruppe aus Paris machte
Halt bei Levesque. Ihre Mitglieder trugen rot-weiß-blaue Kokarden an den Kleidern.
Das seien die Farben der Revolution, erklärte einer von ihnen. Die trage jetzt
jeder.
    Sie brachten auch andere Neuigkeiten. Der Preis für
Brot war ins Unermessliche gestiegen. Hungernde Menschen hatten die
Kornspeicher angegriffen, um an das Getreide zu kommen. Auf den Straßen wurde
verbreitet, der König habe sechshunderttausend Livres für die Beerdigung seines
Sohnes ausgegeben, während Tausende französischer Kinder täglich Hungers
starben. Sie erzählten uns, dass der Schauspieler Talma, kühn und bedenkenlos,
Brutus, den Königsmörder, in römischer Tracht gespielt habe, mit nackten Armen
und Beinen. Das hatte noch keiner getan. Bühnenfiguren traten immer in unserer
Kleidung auf, egal in welcher Zeit das Stück auch spielte. Kritiker nannten ihn
einen Theaterrevolutionär. Jede Vorstellung war ausverkauft.
    Mein Vater sagte: Das ist ein bemerkenswertes Ereignis.
Ich gehe nach Paris zurück, um mir das anzusehen.
    Meine Mutter bat ihn zu bleiben. Noch eine
Marionettenvorstellung. Nur noch eine. Sie werden kommen, Theo, sagte sie und
legte meinen kleinsten Bruder an die Brust. Warum auch nicht? Niemand macht so
wundervolle Marionetten wie du.
    Bei diesen Worten lächelte mein Vater. Meine Mutter
liebte ihn, und er liebte sie – bis zum Wahnsinn tatsächlich. Ich habe keine
Ahnung, warum. Sie war kein rosenwangiges Mädchen. Sie war alt –
sechsunddreißig, als ich sie zum letzten Mal sah. Zudem keine Schönheit. Ihr
braunes Haar war mit Grau durchsetzt. Ihre Zähne klapperten. Sie roch immer
nach saurer Milch und Urin.
    Er beugte sich zu ihr hinab, und weil er dachte, es
sähe keiner zu, legte er die Hand auf ihre Brust. Er küsste das Baby auf den
Kopf und meine Mutter auf den Mund. Ein Wahnsinn, in der Tat. Ich wandte mich
ab. Ich konnte solche Zurschaustellungen nicht länger ertragen. Ich schwor mir,
ich würde nichts und niemanden lieben. Ich würde mich immer nur meinem großen
Ziel verschreiben.
    Am nächsten Tag lächelte meine Mutter. Mein Vater auch.
Am Tag darauf machten wir unsere letzte Fahrt in die Stadt.
    Sie war arm. Und Schauspielerin. Sie war nicht hübsch, und
sie hatte eine Familie. Und sie gingen nach Versailles. Wo der König und die
Königin lebten. Unmittelbar vor der Revolution. Was wirklich erstaunlich ist.
Hatte sie dort Louis Charles kennengelernt? So muss es wohl gewesen sein. Ich
möchte mehr erfahren. Über Versailles – und was sie dort sah. Über sie selbst.
    Ein alte Uhr auf einem Bücherregal schlägt die Stunde. Es ist
ein Uhr früh. Ich bin müde. Ich sollte ins Bett. Morgen will ich früh raus und in
die Bibliothek gehen. Ich sollte meinen Laptop und einen Notizblock in meine
Tasche packen. Meine Zähne putzen. Mein Handy aufladen. Eine Nacht lang richtig
durchschlafen.
    Ich blättere um.
    Â Â 26  

    24. April 1795
    Wir spielten gerade Kasperletheater, als es passierte.
Und hatten ein kleines Publikum, zum ersten Mal. Bis auf den heutigen Tag weiß
ich nicht, warum. Vielleicht spürten die Leute, was kommen würde, und wollten
lachen, so lange sie noch konnten.
    Ha ha ha! Nimm das!, schrie Kasperle, als er mit einem
Knüppel auf Gretels Kopf einschlug. Das Publikum tobte. Der Vorhang fiel.
Gretel streckte ihren zertrümmerten Kopf unter dem Saum heraus, ein Auge
baumelte an einem Faden, und sie

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