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Das Blut der Lilie

Titel: Das Blut der Lilie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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»Das gibt’s doch nicht? Es
ist doch noch gar nicht rausgekommen?«
    Ich erkläre ihm, dass sie letzte Woche in L. A.
ein kleines Konzert gegeben haben, um zu sehen wie ein paar ihrer neuen Songs
beim Publikum ankommen, und dass jemand das Ganze aufgenommen und auf YouTube
verbreitet hat. »Ich hab die Songs auf meinem iPod. Du kannst sie dir anhören,
wenn du willst. Hast du Kopfhörer?«
    Â»Brauch ich nicht«, sagt er und deutet auf den Eingang in
seinem Armaturenbrett.
    Ich stöpsle meinen iPod ein und drehe die Lautstärke auf.
Drei Songs später halten wir vor G.s Haus. Virgil späht aus dem Fenster auf die
schäbigen Türen und runzelt die Stirn.
    Â»Hier wohnst du?«, fragt er und dreht die Musik ab.
    Â»Drinnen sieht es besser aus.«
    Â»Das hoffe ich.« Dann fragt er: »Also … ähm … wie lange
bleibst noch hier?«
    Â»Viel zu lange«, antworte ich.
    Es ist mir einfach so rausgerutscht, und ich wünschte, es
wäre nicht passiert, weil es sich wirklich arrogant und gemein anhört. So
möchte ich mich ihm gegenüber nicht geben, aber ich kann nichts dagegen machen.
Arrogant und gemein ist mein Standardmodus. Dr. Becker hat einmal gemeint, es
sei so eine Art Abwehrmechanismus, etwas, um Menschen von mir wegzustoßen. Es
hat funktioniert. Er sieht mich nicht mal mehr an.
    Â»Hey, danke fürs Bringen«, sage ich und versuche, einen
freundlicheren Tonfall anzuschlagen.
    Er zuckt die Achseln. »Nicht der Rede wert«, antwortet er und
beugt sich herüber, um mich auf beide Wangen zu küssen.
    Er ist Franzose, also bedeutet das nichts, aber ich wünschte,
es wäre anders. Wirklich. Obwohl ich weiß, was für eine schlechte Idee das ist.
Ich meine, ich musste schon einmal wegen eines Jungen ein Land verlassen.
    Â»Geh rein«, sagt er. »Ich warte.«
    Seit meinem ersten Schuljahr hat niemand mehr gewartet, bis
ich im Haus war, und das sage ich ihm, aber er reagiert nicht darauf. Also tue
ich, wie mir befohlen wurde. Er fährt nicht weg, bis ich im Hof bin und die Tür
hinter mir geschlossen ist. Ich höre seinen Motor aufheulen, dann verebbt das
Geräusch, und einen Moment lang wünsche ich mir, in Hollywood statt in Paris zu
sein, dann könnte ich meine Sachen auf den Boden werfen, ihm schreiend die
Straße entlang nachlaufen, ihn an der Ampel einholen und ihm sagen, was für ein
Vollidiot ich bin.
    Aber ich bin nicht in Hollywood. Also schlängle ich mich an
G.s unheimlichen Statuen, Säulen und Brunnen vorbei und versuche, nicht zu
stolpern. Allein im Dunkeln. Wie immer.
    Â Â 25  
    Dad ist noch nicht zurück. Das ist ungewöhnlich.
    Ich setze mich an den Tisch, starre an die Decke und frage
mich, warum alles zu Scheiße wird, was ich anfasse. Gerade habe ich es mit
einem wirklich coolen Typen vermasselt – tatsächlich dem coolsten Typen, den
ich je kennengelernt habe. Und zwar gerade in den letzten paar Minuten. In den
letzten zwei Jahren habe ich allerdings eine Menge mehr vermasselt.
    Ich wünschte, ich könnte damit aufhören, alles kaputtzumachen,
aber ich weiß nicht, wie. Wer oder was heilt gebrochene Menschen? Jesus?
Schokolade? Neue Schuhe? Ich wünschte, jemand könnte mir das sagen. Ich
wünschte, ich hätte eine Antwort darauf. Einmal habe ich Nathan gefragt. Ich
dachte, er könnte es wissen, wenn man bedenkt, was er durchgemacht hat, aber er
meinte, das müsse ich allein herausfinden. Jeder müsse das.
    Ich greife in meine Tasche, nehme das Fläschchen mit den
Qwellify heraus und schlucke drei. Das ist meine Antwort. Wenn ich genügend
Qwells nehme, vergesse ich die Wut und die Trauer. Ich vergesse sogar die Frage.
    G.s Gitarre liegt noch immer auf dem Tisch, genau dort, wo
ich sie abgelegt habe. Ich streiche über den Koffer, dann nehme ich das
Instrument heraus und spiele ein bisschen. Aber es passiert nichts. Weil meine
Gedanken nicht auf Musik eingestellt sind. Sie sind bei der anderen Sache in
dem Koffer – dem Tagebuch.
    Ich denke an dieses Mädchen – Alexandrine. An den
Zeitungsausschnitt. An Louis Charles. Und es ist, als würden die Seiten mich
rufen. Das ist kein angenehmes Geräusch. Es hört sich an wie Schritte, die
einen im Dunkeln verfolgen, wie eine Haustür, die langsam von selbst aufgeht,
obwohl man geglaubt hat, allein zu sein. Ich sollte das Tagebuch lassen, wo es
ist, das weiß ich. Aber

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