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Das Blut der Lilie

Titel: Das Blut der Lilie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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fächelte sich heftig Luft zu. Auch die Königin benutzte ihren
Fächer, aber nur, um ihr Lächeln zu verbergen. Ich blickte auf den König und
erwartete düsteren Zorn in seinen Augen, aber er sah mich nicht an. Er lächelte
in Richtung seines Sohnes, der hilflos vor Lachen aus dem Fenster hing.
    Das hatte ich erreicht – ich hatte den traurigen
Prinzen zum Lachen gebracht. Seinen trauernden Eltern ein Lächeln abgerungen.
Niemand anderes als ich. Da glaubt man, nur Könige hätten Macht? Stell dich auf
eine Bühne und halte die Herzen der Menschen in deiner Gewalt. Bring sie mit
einer Geste zum Lachen, mit einem Wort zum Weinen. Bring sie dazu, dich zu
lieben. Dann weißt du, was Macht ist.
    Ein Diener mit einem Beutel Münzen und einer Nachricht
wurde zu uns geschickt. Er sagte, wir sollten uns am Morgen bei den
Palaststallungen einfinden. Der vierte Gehilfe des Maître de Plaisir würde uns
Räume anweisen. Um die Mittagszeit sollten wir uns bereit halten.
    Wofür?, fragte mein Onkel.
    Um eine Vorstellung zu geben natürlich, sagte der
Diener. Für den Dauphin, die königliche Prinzessin und andere Kinder des Hofes.
Die Königin wünscht es so.
    Zum ersten Mal war mein Onkel sprachlos. Meine Mutter
nicht. Sie küsste die Hände des Dieners. Sie dankte ihm und der Königin und
Gott.
    Wir glaubten, unser Glück sei gemacht. Wir dachten,
kein besseres Schicksal hätte uns treffen können. Wir feierten an diesem Abend.
Nahmen uns eine richtige Kammer bei Levesque. Wuschen uns. Stopfen uns mit
Essen voll, bis wir fast platzten. Und als die Dunkelheit einbrach, sangen und
tanzten wir.
    Wir waren dankbar. Wir waren glücklich. Wir waren
Narren.
    25. April 1795
    Ich spielte eine Rolle. Das ist es, was Schauspieler
tun.
    Aber ich spielte sie zu gut. Ich ging zu weit. Und als
ich damit aufhören, mich mit einer Verbeugung verabschieden und die Bühne
verlassen wollte, war es zu spät.
    Neben unserem klapprigen Karren hergehend, erreichten
wir den Palast. Bernard blieb wie angewurzelt stehen, als er das Bauwerk sah.
Er schaltete auf stur und weigerte sich, auch nur einen weiteren Schritt zu
tun.
    Genau wie mein Vater. All das, sagte er mit vor Wut
zitternder Stimme, all das für einen einzigen Menschen.
    Du lieber Gott, sagte meine Tante Lise. Heilige Maria
Muttergottes und alle Heiligen im Himmel, sieh dir das an!
    Rumkuchen, sagte Bette und leckte sich die Lippen.
Butterkuchen. Kirschkuchen mit Sahne.
    Hü, hü, Bernard!, sagte mein Onkel. Und wir gingen
weiter.
    Ich kann den Palast noch immer vor mir sehen. Wenn ich
die Augen schließe, ersteht er erneut vor mir. Ich werde Ihnen von ihm
erzählen. Er war prachtvoll und schön, aber vor allem war er groß. Größer als
eine Kirche. Größer als eine Kathedrale. Er muss selbst Gott neidisch gemacht
haben.
    Schließen Sie jetzt die Augen. Stellen Sie sich einen
wundervollen Sommerabend vor. Die Luft ist mild, und die Dämmerung bricht
herein. Sie stehen am Eingang einer königlichen Allee, vor einer
langgestreckten, samtigen Rasenfläche. Orangenbäume, Jasminblüten und Rosen
verströmen Wohlgeruch. An tausend Zweigen hängen Lampions mit flackerndem Kerzenlicht.
Blicken Sie von Ihrem Standort aus nach Westen, sehen Sie unendliche Weite.
Blicken Sie nach Osten, sehen Sie es im Zwielicht glitzern – Versailles.
    Ãœber die Stufen der Terrasse kommen sie herab – der
König und die Königin, strahlend, obwohl sie in Trauer sind. Hinter ihnen ein
wandelnder Garten – Höflinge in lavendelfarbener Seide mit Silber durchwirkt,
in magentarotem Satin mit Perlen bestickt. In Apricot, Rostbraun, Krepprot und
Pflaumenblau. Sie sollten düsteres Mauve und Grau tragen, doch in solchen
Farben kann niemand glänzen, und glänzen müssen sie, denn wodurch sonst sollte
ein Lakai sich auszeichnen? Das Haar der Damen ist wie gesponnener Zucker und
die Dekolletés sind so weiß wie Merengue-Gebäck. Die Männer stecken in Gehröcken,
so eng geschnittenen, dass sie kaum zu atmen wagen, aus ihren Manschetten
flattert Spitze und Edelsteine blitzen an ihren Fingern.
    Der König schreitet dahin. Er nickt. Sein Blick ist wie
eine Berührung Gottes – unter ihm erwacht alles zum Leben. Ein Wink von seiner
Hand und hundert Musiker spielen Händel und erschaffen einen Klang, den Sie
noch nie gehört haben und nie mehr hören werden. Ein Klang,

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