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Das Blut der Lilie

Titel: Das Blut der Lilie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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spielst die
Rolle der Gefährtin, und du spielst sie gut. Diesmal wirst du dich mir nicht
widersetzen. Du wirst …
    Du hast recht, Onkel, sagte ich.
    Ich warne dich, wage nicht …?, stotterte er, verblüfft
von meiner plötzlichen Fügsamkeit.
    Du hast recht. Ich werde es tun. Das Glück unserer
Familie hängt davon ab.
    Mein Onkel kniff die Augen zusammen. Er war
misstrauisch. Und das zu Recht, denn nicht das Glück meiner Familie lag mir am
Herzen, sondern mein eigenes.
    Ich wusch mir das Gesicht, polierte meine Stiefel und
verließ unsere Unterkunft. Schluss mit den furchtbaren Marionetten, dachte ich,
als ich den marmornen Hof durchquerte. Schluss mit den Befehlen meines Onkels.
Ich würde die Spielgefährtin des Kronprinzen von Frankreich sein. Und bald, in
einem oder vielleicht zwei Jahren, wenn der Junge älter wäre und mich nicht
mehr brauchte, würde ich die Königin um Hilfe bitten. Und sie würde mir helfen,
weil ich ihre Gunst besaß. Was könnte mich dann noch aufhalten? Ein Wort von
ihr und ich wäre an einer Pariser Bühne. Ich wäre dann vierzehn. Ich könnte
anfangs Ophelia und Marianne spielen, dann Suzanne, Zaire und Rosalind. Hatte
nicht Caroline Vanhove ganz Paris verblüfft, als sie mit vierzehn die Iphigénie
gespielt hatte?
    Hast du kein Kleid? Ist das deine ganze Garderobe?,
fragte die Hofdame, als ich vor den Gemächern der Königin stand. Als ich ihr
sagte, dass ich nur ein Kleid besäße und dass dieses sogar noch schäbiger sei
als meine Reithosen, ließ sie einen Kammerdiener seinen Gehrock ablegen und
mich hineinschlüpfen. Man sagte mir, ich sollte in einem Vorraum warten. Eine
Stunde verging. Zwei. Vor mir warteten noch andere. Minister. Botschafter. Eine
alte Marquise, die vier Spaniel bei sich hatte, kümmerte sich nicht weiter, als
diese ein Stuhlbein annagten und ihr großes Geschäft auf dem Teppich
erledigten.
    Schließlich wurde ich vorgelassen. Die Königin schrieb
Briefe an einem Sekretär mit Marmorplatte, in einem Saal, der schöner war als
alles, was ich je gesehen hatte. Die Decke war mit Wolken und Engeln bemalt.
Die Möbel sahen aus, als wären sie aus Gold gemacht, und der Teppich unter
meinen Füßen, als wäre er aus Blumen gewebt. Rosen in allen Farbnuancen quollen
aus Vasen. Ihr Wohlgeruch erfüllte die Luft.
    Die Königin sah ganz anders aus als bei unseren letzten
Begegnungen. Sie trug ein einfaches Musselinkleid. Keine Perücke. Ihr Haar war
locker im Nacken zusammengefasst. Ich entdeckte weiße Strähnen darin und Falten
auf ihrer Stirn. Aus der Ferne hatte ich das nicht bemerkt. Als sie zu mir
aufblickte, sah ich, dass ihre blauen Augen müde und traurig wirkten, und ich
erinnerte mich, dass sie ihr Kind verloren hatte. Das vergaß man leicht, wenn
man sie glitzernd bei Staatsempfängen sah oder wenn sie huldvoll jede
Stinkwanze mit einem Orden an der Brust anlächelte.
    Ich knickste vor ihr, was in den Reithosen einiges
Geschick erforderte, und hielt den Blick zu Boden gesenkt. Sie winkte mich
näher zu sich und starrte mich eine Weile an, als wollte sie bei mir Maß
nehmen. Mein Sohn liebt dich, sagte sie schließlich. Er war ein glückliches
Kind, bis er seinen Bruder verlor. Jetzt hängt er zu sehr melancholischen
Gedanken nach, was seiner Gesundheit schadet. Ich möchte, dass du seine
Gefährtin wirst. Unterhalte ihn. Singe und tanze für ihn. Sieh zu, dass sein
bedrücktes Herz fröhlich wird. Wirst du das tun?
    Ich sagte, das wäre die größte nur vorstellbare Ehre
für mich. Ich sagte, ich liebte den Dauphin mehr als mein Leben. Ich ließ mir
Tränen in die Augen steigen und tat, als hätte ich einen Kloß im Hals, obwohl
mir der Junge rein gar nichts bedeutete, bloß ein Mittel zum Zweck für mich
war.
    Die Königin lächelte und ließ sich von meiner
Vorstellung überzeugen. Sie gab mir einen Beutel Münzen und entließ mich. Ihre Hofdame
befahl mir, meine Sachen zu holen und schnell zurückzukommen. Sie würde mir
mein neues Gemach neben dem des Dauphins zeigen.
    Ich nahm die Hälfte der Münzen aus dem Beutel und
stopfte sie in meine Reithosen. Die Münzen in meiner Hand wollte ich meinem
Onkel geben, denn er erwartete etwas nach diesem Treffen. Dann rannte ich weg –
aus den Gemächern der Königin, die Treppe hinunter, durch die riesigen
Palasttüren und die

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