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Das Blut der Lilie

Titel: Das Blut der Lilie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Donnelly
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ich tue im Grunde nie, was ich sollte.
    Ich nehme Trumans Schlüssel von meinem Hals, öffne den
doppelten Boden und nehme das Tagebuch heraus.
    23. April 1795
    Wir hatten uns die denkbar schlechteste Zeit
ausgesucht. Als wir Mitte Mai 1789
in der Stadt Versailles ankamen, stellten wir fest, dass es hier nur so
wimmelte vor grimmigen, düsteren Männern.
    Wer sie sind ? Seid ihr dämlich?, rief
Levesque, der Gastwirt. Das sind die Vertreter der drei Stände. Sie sind hier,
weil Frankreich bankrott ist! Was die Kriege nicht verschlungen haben, hat
dieses Miststück von Königin verschleudert!
    Mein Onkel hatte ihn gefragt, wer die wichtig
aussehenden Männer seien und ob wir eine billige Kammer bekommen könnten. Wir
hätten zwar im Moment kein Geld, sagte er, aber bald schon genug davon. Wir
besäßen die schönsten Marionetten von ganz Frankreich und würden demnächst ein
Vermögen damit verdienen.
    Levesque lachte. Heute will doch keiner mehr Marionettentheater
sehen, sagte er. Alle gieren nur nach den neuesten Nachrichten aus dem Palast.
Wird sich der Klerus auf die Seite der Bürger stellen? Was hat Mirabeau gesagt?
Wird der König auf die Vernunft hören?
    Bitte, können Sie uns keine Kammer geben?, fragte mein
Onkel erneut.
    Wir waren den ganzen weiten Weg aus Paris zu Fuß gelaufen,
und Bernard, unserer dürrer Esel, hatte den Karren mit unseren Habseligkeiten
gezogen. Wir waren müde und hungrig. Meine Brüder weinten. Meine Mutter versuchte,
sich zusammenzureißen.
    Levesque musterte uns von oben bis unten und zog die
Luft durch die Zähne ein. Wenn ihr abends im Schankraum für meine Gäste singt,
könnt ihr im Stall schlafen. Traurige Lieder. Die Leute trinken mehr, wenn sie
traurig sind.
    Der Stall war gar nicht so schlecht. Er war trocken, es
gab sauberes Heu, in dem man schlafen konnte, und die Flöhe bissen auch nicht
mehr als in Paris. Mit der Zeit fasste Levesque eine gewisse Zuneigung zu
meinem Onkel. Noch spät nachts saßen sie in der Scheune zusammen und tranken
und redeten. Ich hörte sie vom Heuboden aus.
    Die drei Stände haben sich wieder bis in die Nacht
gestritten, sagte Levesque einmal. Der König hat ihnen befohlen zusammenzuarbeiten,
um Frankreichs Finanzprobleme zu lösen, aber sie wollen nicht. Der Klerus und
der Adel zahlen keine Steuern, und die Bürger – diejenigen, die Steuern zahlen
– haben es satt und weigern sich zu kooperieren.
    Frankreich geht bankrott, der König geht auf die Jagd
und wir sind die, die dafür aufkommen müssen. Wie immer, sagte mein Onkel.
    Jetzt sprach Levesque wieder. Seine Stimme klang
eindringlich, aber leise, als wollte er, dass ihn niemand hörte außer meinem
Onkel. Diesmal nicht, mein Freund, sagte er. Es werden Forderungen laut, die
Macht des Königs zu beschränken. Man munkelt, es gebe bald eine Rebellion.
    Jeden Morgen zogen wir mit unserem Karren zum
Stadtplatz und gaben eine Vorstellung. Mein Onkel hatte aus unserem Küchentisch
hastig ein neues Theater gezimmert, bevor wir Paris verlassen hatten. Ich saß
oben auf unserem Karren. Aber nur wenige Zuschauer kamen. Wir mussten Arbeit in
einer Wäscherei annehmen – meine Mutter, meine Tante, meine Schwester und ich
–, um dem Hungertod zu entkommen. Und dann wurde es noch schlimmer.
    Anfang Juni starb der älteste Sohn des Königs, der
Dauphin, an Schwindsucht. Er war erst sieben Jahre alt, und sein Tod bereitete
der königlichen Familie furchtbaren Schmerz. Der Hof trauerte mit ihr. Die
Stadt ebenfalls. Läden und Cafés schlossen. Wir mit unseren furzenden Marionetten
und Farcen waren in der Stadt so willkommen wie die Pest.
    So blieb es den ganzen Juni hindurch. Wir aßen hartes
Brot und verschimmelten Käse und manchmal Erdbeeren, die ich von einem Feld
stahl. Meine Brüder wurden braun von der Sonne. Meine Schwester wurde fett. Und
meine Mutter, die sich nach Kaffee und einer Waschgelegenheit sehnte, wo sie
kein neugieriger Stalljunge beobachtete, verbittert.
    Eines Abends kam Levesque in den Stall gelaufen und
wedelte mit einem Flugblatt. Er sagte, es habe eine Revolte gegeben. Die Bürger
hätten den Klerus und den Adel schließlich überredet, sich ihnen anzuschließen,
sie wollten sich nicht mehr als Stände bezeichnen, sondern als
Nationalversammlung, und Frankreich eine Verfassung geben. Der Herzog von
Orléans, der Cousin des Königs und

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