Das Blut der Rhu'u
ihm sofort, dass er die beiden Splitter des Arrod’Sha gefunden hatte. Sie lagen in einem Schrein, vollkommen offen und ungeschützt. Unbewacht. Zwar waren sie von einem Zauber umgeben, der verhinderte, dass magisch Begabte ihre Ausstrahlung spüren konnten, aber darüber hinaus wurden sie von niemandem bewacht. Camulal hielt das für sträflichen Leichtsinn. Er trat näher. Sie pulsierten in einem dunkelroten inneren Licht, das ihn anzog wie eine Kerzenflamme eine Motte. Sein erster Gedanke war, dass er hier die Chance hatte, bei seiner Mutter Punkte zu sammeln, wenn er die Steine nahm und sie ihr brachte. Er blickte sich um. Niemand war in der Nähe. Niemand beobachtete ihn. Er wäre verschwunden, ehe jemand ihn aufhalten könnte. Und seine Mutter würde ihn endlich respektieren und vergessen, dass er Carana zur Flucht verholfen hatte.
Oder auch nicht.
Rhu’Catunua kannte nur eins: Macht. Respekt oder Anerkennung kamen in ihrer ohnehin sehr begrenzten Gefühlswelt nicht vor. Sie hatte sogar Casdirus Vater umgebracht, um durch seine Energie noch stärker zu werden. Sie war nicht nur ein Sukkubus, sondern zur Hälfte auch eine Blutdämonin, die ihre Kraft aus dem Blut und somit dem Tod ihrer Opfer zog. Camulal wusste genau, was passieren würde, falls es ihr gelingen sollte, die Macht über den Arrod’Sha zu erlangen. Und, so ungern er das auch zugab, nachdem sie ihn verstoßen hatte, konnte es sehr wohl sein, dass sie ihn zum Dank für sein Geschenk ebenso aussaugte wie jedes andere ihrer Opfer. Sie würde ihn dabei nicht umbringen, aber sie würde ihn so schwach zurücklassen, dass er sich vielleicht nie mehr davon erholen würde.
Nein, seine Mutter durfte die Steine nicht bekommen. Und Camulal hoffte inständig, dass es ihr auch nicht gelingen würde, die Macht des Arrod’Sha zu kontrollieren, wenn der Stein eines Tages wieder zusammengefügt wurde. Camulal hatte seine Entscheidung getroffen, als er Onkel Calibor um Aufnahme bat. Er würde ihn und die anderen nicht hintergehen. Verrat war das Metier seiner Mutter und seines Bruders. Nicht seins. Niemals seins.
Er wandte dem Schrein den Rücken zu und sah sich Meister San gegenüber. Offenbar hatte der Abt ihn die ganze Zeit über beobachtet, ohne dass er es gemerkt hatte. Der alte Mann lächelte wohlwollend.
»Du hast eine weise Entscheidung getroffen, Rhu’Camulal«, sagte er.
Er legte ihm den Finger auf die Stirn, und Camulal fühlte nicht nur einen tiefen Frieden in sich einziehen, sondern auch eine Stärke in sich, die er nie für möglich gehalten hatte. Als wären alle inneren Wunden, die er jemals erhalten hatte, schlagartig geheilt.
Er verbeugte sich tief vor dem Mönch. »Danke«, flüsterte er inbrünstig.
Als er aufsah, war er allein und Meister San verschwunden.
*
Die Mönche brauchten drei Tage, um eine Entscheidung zu treffen, Tage, in denen Meister San mit jedem Rhu’u ein Gespräch unter vier Augen führte. Am Abend des dritten Tages ließ er sie alle zu sich kommen und servierte ihnen Tee.
»Ihr habt euch sehr respektvoll verhalten«, lobte er schließlich, »und auch mustergültig zurückhaltend. Dabei kann ich euren Hunger fühlen.«
»Ein paar Fastentage schaden uns nicht«, erklärte Cal. »Falls eure Beratung aber noch länger dauert, würden wir uns für einen Tag aus dem Kloster zurückziehen, um etwas zu essen.«
»Das wird nicht nötig sein.« San reichte Cal einen Baumwollbeutel. Cal musste ihn nicht öffnen, um zu wissen, dass darin die beiden Fragmente des Arrod’Sha lagen. Er konnte dessen vertraute Kraft fühlen. »Wie du gesagt hast, Rhu’Calibor, ist es an der Zeit, das Gleichgewicht wiederherzustellen. Tut das, und nutzt die Macht des Arrod’Sha weise. Ihr habt noch einen langen Weg vor euch, ehe ihr euer Ziel erreicht, denn eure Feinde schlafen nicht.«
Cal nahm die Steine ehrfürchtig mit einem Dank entgegen und reichte sie an Camiyu weiter, der sie einsteckte. »Da hast du recht, Meister San. Und wir haben leider nicht nur menschliche Feinde, mit denen wir fertigwerden müssen.«
»Du denkst an die Zehn Mächtigen Fürsten der Unterwelt«, sagte der Mönch zu Cals Überraschung. »Sie sind aufgeschreckt, das ist wahr.« Er blickte jeden Rhu’u eindringlich an. »Wenn die Zeit gekommen ist, handelt weise.«
»Danke, Meister San«, sagte Cal. »Wir werden uns bemühen.«
Der alte Mönch lächelte. »Ich muss euch danken, Calibor. Denn nun, da die beiden Kristalle wieder in den rechten Händen
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