Das Blut der Unschuldigen: Thriller
abzielt, in welcher Beziehung ich zu den Nazis gestanden habe – ich bin eine Überlebende. Weder habe ich ihnen den Weg mit Bomben verlegt noch jemanden umgebracht. Ich habe nichts getan, einfach überlebt.«
»Nein, das war nicht der Grund meiner Frage. Bitte entschuldigen Sie, ich möchte keine alten Wunden aufreißen.«
»Falls Sie sich fragen sollten, ob es in jenen Jahren etwas zwischen uns gegeben hat – nein. Er hat in mir nie die Frau gesehen, und ich in ihm nie den Mann. Auch wenn Ihnen diese Vorstellung schwerfallen mag, Freundschaft zwischen Männern und Frauen ist möglich.«
»Nein, sie fällt mir überhaupt nicht schwer.«
»In der verzweifelten Situation, in der wir uns damals befunden haben, brauchte keiner von uns beiden diese Art von Liebe. Ich glaube, dass zwischen uns eine festere Beziehung bestanden hat, als wenn wir miteinander ins Bett gegangen wären.«
Er errötete, obwohl sie das in völlig sachlichem Ton gesagt hatte.
»Und hatten Sie später noch Kontakt mit ihm?«
»Ja, ich habe ihn ab und zu angerufen und ihm auch mehrere Briefe geschrieben, die er beantwortet hat.«
»Und was werden Sie jetzt tun?«
»Was ich immer schon tun wollte und worin er mich immer bestärkt hat: meine Studien fortsetzen und mein Examen als Lehrerin machen. Er war mir gegenüber außerordentlich großzügig: Er hat mir außer seinen Ersparnissen auch seine Wohnung hinterlassen. Ich werde sie verkaufen, denn darum hat er mich in seinem Brief gebeten. Jetzt kann ich in Ruhe studieren und mich um meinen Sohn kümmern, ohne mich Tag für Tag aufs Neue fragen zu müssen, wie es weitergehen soll.
Er hat mich aufgefordert, glücklich zu sein, und das werde ich versuchen.«
»Ich gebe Ihnen meine Anschrift in Rom für den Fall, dass Sie eines Tages dort sein sollten. Außerdem würde ich mich freuen zu wissen, wo ich Sie in Berlin finden kann. Professor Arnaud hat uns schließlich als seine Erben eingesetzt …«
»Und Sie meinen, dass Sie das mit mir verbindet?«, fragte sie mit spöttischem Unterton.
»Ja. Ich weiß nicht, warum, aber das denke, oder besser gesagt, das fühle ich. Sollten Sie eines Tages Hilfe brauchen, dürfen Sie sich gern an mich erinnern.«
»Ich glaube nicht an Gott«, gab sie zur Antwort.
»Warum sagen Sie das? Ich habe Sie nicht gefragt, woran Sie glauben.«
Sie erhob sich und gab ihm zum Abschied die Hand.
»Ich sehe, dass Arnauds Tod Sie aufgewühlt hat. Das ist nicht nötig. Er ist gestorben, weil das Leben für ihn keinen Sinn mehr hatte. Jetzt hat er den Frieden gefunden.«
Während er der Frau nachsah, wie sie mit festem Schritt das Café verließ, kam ihm der Gedanke, dass sie niemals jemanden brauchen würde, nicht ihn und auch sonst keinen. Sie hatte es selbst gesagt – sie war eine Überlebende und hatte das Schlimmste bereits hinter sich.
Auf der Rückreise nach Rom öffnete Aguirre Arnauds Brief. Darin teilte ihm der Professor mit, dass die im Zusammenhang mit Bruder Juliáns Chronik stehenden Unterlagen für ihn selbst keinen Sinn mehr hätten, doch sei denkbar,
»… dass Sie eines Tages etwas darin finden, was Ihnen helfen kann, dem Grafen und seinen skurrilen Vorstellungen etwas
entgegenzusetzen. Allerdings bin ich fest überzeugt, dass er nichts finden wird, weil es nichts zu finden gibt. Die Angelegenheiten der Lebenden haben für mich jede Bedeutung verloren, da ich mich nicht mehr von dieser Welt fühle. Sie hingegen sind jung und haben den Glauben an die Menschheit noch nicht verloren. Kämpfen Sie, um zu verhindern, dass weiter unschuldiges Blut vergossen wird. Das ist im Lauf der Geschichte viel zu häufig geschehen. Im Namen Gottes hat man immer wieder gemordet – welch ein Widerspruch!
Bruder Julián hat geschrieben, eines Tages werde jemand das Blut der Unschuldigen rächen, doch ich denke, es wäre besser, wenn es nicht so weit käme. Die Rache nützt den Toten nichts …«
Als Aguirre am späten Abend in Rom eintraf, war er erschöpft, fand aber dennoch keinen Schlaf. Er öffnete den Karton mit Arnauds Unterlagen und machte sich auf die Reise durch die Jahre, die dieser mit Bruder Juliáns Chronik verbracht hatte. Es kam ihm vor, als hätte die Hand Gottes sein Geschick mit dem jenes Dominikanermönchs verbunden, der von Rache für die schuldlos Dahingemordeten gesprochen hatte.
DRITTER TEIL
1
Gegenwart, Athen, ein Samstag
Zerstreut sah der nicht mehr sehr junge Mann, dessen Haare ins Graue zu spielen begannen, vom
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