Das Blut der Unsterblichen
Menschen sehen nur, was sie sehen wollen, da bildest du keine Ausnahme. Außerdem glaube ich nicht, dass du auf eine derart abwegige Idee gekommen wärest, egal wie seltsam ich mich verhalten habe“, erwiderte er.
„Du hast recht, so etwas wäre mir nie in den Sinn gekommen. Wer glaubt schon an Mythen und Legenden?“
Sie betraten das Speisezimmer. Porzellanteller, goldenes Besteck und dicke, gefaltete Stoffservietten zierten die Tafel. In der Mitte des Tisches brannten Kerzen in goldenen Leuchtern. Sie zauberten ein warmes Licht, das sich in den glitzernden Kristallen des Kronleuchters brach. Das Ganze hatte etwas Betörendes und Unwirkliches.
Marcus schob Kristinas Stuhl zurück, damit sie Platz nehmen konnte. Der Butler trat ein und füllte die Gläser der Unsterblichen mit einer schweren, dunkelroten Flüssigkeit. Kristina versuchte, trotz dieser grotesken Situation, entspannt zu wirken, als wäre es völlig normal, mit Unsterblichen an einem gedeckten Tisch zu sitzen und sie bei ihrer Blutmahlzeit zu beobachten. Der Butler nahm eine andere Karaffe zur Hand und füllte Kristinas Glas mit Wein. Sie starrte auf die rote Flüssigkeit und fragte sich ernsthaft, ob es sich tatsächlich um Wein handelte.
„Es tut mir leid, dass die Zeit bis zum Abendmahl so knapp bemessen war“, unterbrach Estelle ihre Überlegungen.
Kristina versuchte ein Lächeln. „Das ist kein Problem. Ich brauche nie lange, um mich zurechtzumachen.“
Philippe lachte und ergriff sein Glas. „Verständlich, wenn man so ungemein attraktiv ist.“
Fasziniert beobachtete Kristina, wie er die Augen schloss, die Nasenflügel blähte und den Duft des Blutes auskostete. Dann setzte er das Glas an die Lippen und füllte seinen Mund mit der schweren, roten Flüssigkeit. Sein Kehlkopf hüpfte, während er schluckte.
„Diese Situation muss sehr befremdlich für Sie sein. Ich vergaß, dass Sie bis vor wenigen Tagen noch nichts von Marcus’ wahrer Natur wussten. Bitte seien Sie versichert, dass Sie von uns nichts zu befürchten haben“, sagte Estelle, die Kristinas Blick bemerkt hatte.
„Oh nein“, beeilte Kristina sich zu versichern. „Ich habe keine Angst und Sie sind ganz wundervolle Gastgeber, es ist nur alles noch so … neu für mich.“
Der Butler trug Kristinas Vorspeise auf. Eine cremige Champignonsuppe, die köstlich schmeckte. Sie fragte sich, wer die Speisen zubereitet hatte, wagte aber nicht, danach zu fragen. Währenddessen nippten die Unsterblichen an ihren Gläsern und unterhielten sich, immer darum bemüht, sie in die Unterhaltung mit einzubeziehen.
Nach der Hauptspeise, Perlhuhn mit Pfifferlingen, sowie mehreren Gläsern Wein, schien es Kristina fast, als würde sie mit Freunden zusammensitzen. Estelle verriet ihr, dass sie die fertigen Speisen von einem Restaurant in Saint Lo hatten liefern lassen. Philippe wiederum versicherte ihr, dass Leila nichts geschehen würde und erklärte, wie wichtig geborene Unsterbliche waren und mit welcher Ehrerbietung sie normalerweise behandelt wurden. Auch versprach er ihr, Marcus zu helfen und gemeinsam mit dem Ältestenrat zu verhandeln.
Durch diese Worte einigermaßen beruhigt, war Kristina in der Lage, sich zu entspannen und den Abend, sowie das Zusammensein mit Marcus, zu genießen. Für ein paar Stunden verdrängte sie die Sorge um Leila, Franks Tod und die Tatsache, dass unsterbliche Kreaturen nach ihrem Leben trachteten. Trotz, oder gerade wegen ihrer Angst, fühlte sie sich so lebendig wie seit vielen Jahren nicht mehr.
Um Mitternacht verabschiedeten sich ihre Gastgeber, was nicht daran lag, dass sie ihrer Gäste überdrüssig waren, sondern an den Blicken, die Marcus und Kristina einander zuwarfen. Anfänglich waren es kurze, verstohlene Blicke gewesen, doch je mehr Blut durch Marcus’ Adern und je mehr Alkohol durch Kristinas Blutkreislauf floss, umso intensiver und länger wurden die Augenkontakte und umso öfter berührten sie einander.
Kristina hatte sich schon seit geraumer Zeit kaum noch auf die Gespräche konzentrieren können. Immer wieder hatte sie sich dabei ertappt, wie sie ihn verstohlen musterte und dabei festgestellt, dass sie ihn begehrte, mehr als je zuvor, falls dies überhaupt möglich war. Sie beugte sich vor und griff nach ihrem Weinglas. Dabei berührte sie seinen Arm. Er sah sie an, mit diesem besonderen Blick, der sie erschauern ließ. Beschämt zuckte sie zurück und senkte den Kopf, denn sie befürchtete zurecht, dass Estelle und Philippe bemerken
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