Das Blut der Unsterblichen
Estelle in das Gästezimmer geleiten. Ihr Koffer stand schon auf der Truhe vor dem Himmelbett. Estelle verabschiedete sich und schloss die Tür. Mit einem Seufzer sank Kristina auf das riesige Bett. Während sie die mit Schnitzereien verzierten Bettpfosten und den cremefarbenen Baldachin über sich betrachtete, dachte sie an Leila. Marcus hatte ihr zum wiederholten Male versichert, dass Leila nichts geschehen würde. Seine Beteuerungen hatten sie zwar beruhigt, trotzdem wünschte sie sich, sie könnte bei ihrer Tochter sein und ihr beistehen. Schwerfällig streifte sie ihre Jeans und das Sweatshirt ab, warf die Sachen an das Fußende des Bettes und kroch unter die Decke, überzeugt davon, keine Ruhe zu finden. Die Tatsache, dass sie sich in einem fremden Land, in einem fremden Haus mit zivilisierten, aber nichtsdestotrotz gefährlichen Unsterblichen befand, trug ebenso wenig zu ihrer Entspannung bei, wie die Grübeleien über Marcus, Franks Tod und das Schicksal ihrer Tochter. Nachdem sie sich eine Weile in ihren Schuldgefühlen gesuhlt und ein paar Tränen vergossen hatte, forderten die Anstrengungen der letzten Tage jedoch ihren Tribut. Eine Minute nur schloss sie die Augen, und ehe sie sich versah, sank sie in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
Als es leise an der Tür klopfte, stellte sie erschrocken fest, dass es schon wieder hell geworden war. Desorientiert setzte sie sich auf und sah sich um. Langsam kehrte die Erinnerung zurück. Sie befand sich in Frankreich, in einem Haus mit Unsterblichen. Offensichtlich hatte sie die Nacht jedoch überlebt. Ihr Kopf schmerzte dumpf. Es klopfte erneut. „Madame?“
„Un Moment, s’il vous plait. Ich mache gleich auf.“
Kristina rutschte vom Bett, streifte ihr Sweatshirt über, das zerknittert am Fußende des Bettes lag und öffnete die Tür. Vor ihr stand der Butler mit einem Servierwagen, dem ein verführerischer Duft nach Kaffee und frischen Croissants entstieg. „Bonjour Madame. Petit-déjeuner“, sagte er mit einer leichten Verbeugung.
„Oh, merci beaucoup“, Kristinas Magen knurrte vernehmlich. „Das ist sehr nett von Ihnen.“
Der Butler fuhr den Wagen in das Zimmer und platzierte ihn neben dem Sessel am Fenster.
„Desirez-vous du café ou du thé, Madame?“, fragte er.
Kristina schüttelte den Kopf und kramte verzweifelt nach ihrem Schulfranzösisch, von dem nur wenige Worte in ihrem Gedächtnis geblieben waren. „Non, merci. Je voudrais … äh … doucher.“ Sie deutete auf das Badezimmer. „Ich möchte mich erst ein wenig frisch machen. Ich werde mich später selbst bedienen.“
„À votre guise“, sagte der Butler, verneigte sich erneut und verließ das Zimmer. Kristina setzte sich in den Sessel und betrachtete die Speisen. Frischer Kaffee, Orangensaft, warme Croissants, Baguettebrötchen, Butter, Marmelade und Scheibenkäse sowie eine Schale Obstsalat.
Wieder gab ihr Magen ein lautes Knurren von sich. Sie überlegte, wann sie zum letzten Mal etwas gegessen hatte und stellte fest, dass sie es nicht einmal mehr wusste. Heißhungrig machte sie sich über die Croissants und den Obstsalat her. Dabei sah sie aus dem Fenster und betrachtete die Landschaft. Von ihrem Zimmer aus hatte sie einen wunderbaren Blick auf den Garten und den kleinen Teich hinter dem Haus. Wäre das Anwesen ein Hotel und ihr Aufenthalt hier ein Urlaub, würde sie die Umgebung als idyllisch bezeichnen. Nach dem Frühstück ging sie in das Badezimmer, duschte, putzte die Zähne und bürstete ihre Haare. Nach kurzem Überlegen beschloss sie, auch ein wenig Make-up aufzulegen. Nachdem sie sich angezogen hatte, kuschelte sie sich in den Sessel, starrte aus dem Fenster und überlegte, wie sie den Tag verbringen sollte. Sie hatte keine Ahnung, wo sich ihre Gastgeber und Marcus befanden, ob sie ruhten oder wach waren und ob es in Ordnung war, wenn sie auf eigene Faust das Anwesen erkundete. Ein Klopfen riss sie aus ihren Gedanken. Kristina lief zur Tür und öffnete. Es war Marcus. Bei seinem Anblick beschleunigte sich ihr Herzschlag.
„Hast du dich ein wenig ausgeruht?“, fragte er lächelnd.
„Ja, ich bin fest eingeschlafen. Warum hast du mich nicht geweckt?“
„Als ich nach dir gesehen habe, hast du so tief geschlafen, dass du nicht einmal bemerkt hast, dass ich neben dem Bett gestanden habe. Da hielt ich es für besser, dich schlafen zu lassen.“
Kristina zog überrascht die Augenbrauen hoch. Normalerweise hatte sie einen sehr leichten Schlaf und wachte bei dem
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