Das Blut des Skorpions
von Retz«, verkündete Melchiorri.
Derweil tickte der große Metallvogel unverdrossen weiter, wobei seine Flügel, die bei Beginn des Spiels zur Seite weggestreckt waren, sich langsam, aber merklich nach oben bewegten.
Ein weiterer Aristokrat hob seinen reich verzierten Gehstock, bis der Knauf aus Elfenbein über die Bank hinausragte, hinter der er saß. Der zweite Spieler nahm eine neue Karte und legte sie auf die erste.
»Stöcke drei für den Conte d’Acquaviva«, tönte der Großmeister.
Der Adelige mit dem wertvollen Stock konnte seine Enttäuschung nicht verbergen, während auf dem Mund des Kardinals ein Lächeln zuckte.
»Verzeiht, Salinari«, sagte da der Maler, »aber ich habe keinen Schimmer von diesem ganzen Prozedere. Was ist das bloß für ein Spiel?«
»Ich bitte Euch, still zu sein, Maestro Sacchi«, erwiderte der junge Mann. »Wenn die Partie zu Ende ist, werde ich Euch die Grundregeln erklären, auch wenn eine oberflächliche Beschreibung nicht genügt, um die raffinierten Abläufe ganz zu begreifen. Nur wenn man es selbst spielt, lernt man, alle Feinheiten des Phönixspiels zu beherrschen.«
Während die Damen und Herren ihre Einsätze machten und die Karten aufgedeckt wurden, hoben sich die Flügel des Phönix immer mehr.
»Schellen vier für den Kardinal von Retz.«
»Kelche drei für den Marchese di Lendinara.«
»Stöcke sieben für die Baronessa Carafa.«
»Kelche König für den Kardinal von Retz.«
Auf einmal hatten die Flügel den höchsten Punkt ihrer langsam vollzogenen Bahn erreicht. Der Blechschnabel des Vogels öffnete sich, und aus dem aufgerissenen Maul schoss eine Flammenzunge hervor. Die Spannung im Saal, die stetig gestiegen war, löste sich plötzlich, und das gebannte Schweigen, das über den Anwesenden gelegen hatte, wurde durch leises Gemurmel unterbrochen.
Die Partie war zu Ende, und der Kardinal von Retz lächelte ungehemmt, sichtlich zufrieden mit dem Verlauf des Spiels.
»Gehen wir«, sagte der Assistent, »jetzt könnt Ihr mit dem Großmeister sprechen. Das war die letzte Runde des Tages.«
Sie stiegen von der Tribüne herab und mischten sich unter die Gesellschaft von Spielern, die nun den Saal verließ. »Ihr habt versprochen, mir die Spielregeln zu erklären«, erinnerte der Maler ihn, als sie sich einen Weg durch das Gedränge bahnten.
»Das Phönixspiel ist eine Erfindung des Großmeisters. Eine höchst geniale Erfindung, wenn ich mir eine Meinung erlauben darf. Die beiden Spieler am Tisch sind nur einfache Ausführende, die speziell dafür ausgebildet wurden. Die Hauptakteure sind die Zuschauer auf den Sitzrängen, sie bestimmen den Verlauf. Am Anfang geht es darum, durch Gebote die Bank zu erwerben, wie bei einer Auktion. Wie Ihr gesehen habt, hat sich ein regelrechter Geheimcode herausgebildet, um die Einsätze zu machen. Jeder der regelmäßig teilnehmenden Spieler verfügt über eine Reihe von Zeichen, mit denen er sein Gebot abgibt oder die Gegner überbietet. Wer am meisten bietet, ersteigert die Bank.«
»Bis hierher scheint alles ganz einfach«, bemerkte Fulminacci.
»Stimmt«, räumte Salinari ein, »auch wenn es beim Bieten nicht ohne Kniffe und Raffinement abgeht, aber das erkläre ich Euch ein andermal. Sobald die Bank vergeben ist, kann das eigentliche Spiel beginnen. Es versteht sich von selbst, dass der Erwerb der Bank im Allgemeinen einen Vorteil bedeutet, obschon er auch zu einem nicht unbeträchtlichen Risiko werden kann, wenn einem das Glück nicht hold ist. Denn alle spielen gegen die Bank, müsst Ihr wissen. Der Inhaber der Bank entscheidet, wie häufig der Schlüssel umgedreht werden soll, der den Mechanismus des Phönix in Gang setzt. Das ist eher ein symbolisches Privileg, denn der Mechanismus funktioniert nach einer komplizierten mathematischen Formel, die der Großmeister selbst entwickelt hat – es ist nämlich nicht die Zahl der Umdrehungen, welche die Länge des Spiels bestimmt. Die Formel des Großmeisters beruht auf der Fibonacci-Reihe und bewirkt eine Aufladung des Laufwerks nach dem Zufallsprinzip. Man kann den Schlüssel zum Beispiel dreißigmal drehen und nur zwei Minuten Spieldauer erhalten oder eine dreimal so lange Partie nach nur einer halben Drehung. Darin liegt das Geniale. Niemand, auch nicht der Großmeister, weiß, wie lange eine Partie dauert. Der Bankhalter hat das Recht der ersten Karte, und die bestimmt den weiteren Verlauf des Spiels. Wer an der Runde teilnehmen möchte, signalisiert seinen Einsatz
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