Das Blutgericht
Ich fragte mich, ob ich der Wahrheit für seinen Geschmack vielleicht ein Stück zu nahe gekommen war.
»Wo haben Sie gesessen?«, fragte ich ihn. »Ganz offensichtlich waren Sie schon mal im Knast.«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Mit dem Gefängnis hab ich es nicht so«, äffte ich ihn mit weibischer Stimme nach.
Er antwortete nicht darauf, bewegte sich aber weiter. Ich fragte mich, was zur Hölle Kaufman denn so lange trieb. Hatte er keine Reservewaffe? Wir hatten Dantalion jetzt schön zwischen uns, Kaufman hätte ihm jederzeit eine Kugel ins Rückgrat jagen können. Aber er reagierte nicht. Er war wirklich zu lange nicht mehr auf der Straße gewesen.
Dantalion war viel näher bei Kaufman als ich. Er hörte etwas, das ich nicht hören konnte. »Das verdammte Handy, FBI! Werfen Sie es mir sofort zu!«
Kaufmans Telefon kam über die Mauer gesegelt, und Dantalion zerstampfte es unter seiner Schuhsohle in tausend Stücke.
Jetzt war Dantalion wütend. Aber es war nicht die besinnungslose Wut, in die ich ihn hatte treiben wollen. Es war eine kontrollierte Wut, viel gefährlicher. Er rammte den Revolver fest in Bradleys Achselhöhle, und obwohl dieser unter schweren Betäubungsmitteln stehen musste, zuckte er vor Schmerzen zusammen.
»Ich habe die Schnauze voll von den Spielchen, Hunter. Schieben Sie Ihren Arsch aus dem Weg, oder ich werde – so wahr mir Gott helfe – erst diese Schwuchtel und dann Sie erschießen.«
»Ich glaube nicht, dass Gott auf Ihrer Seite ist«, sagte ich ihm. Bewusst rührte ich mich keinen Zentimeter. »Sie vergessen, dass Er sich dafür entschied, die Menschen Seinen Engeln vorzuziehen. Welche Seite, glauben Sie, wird Er sich wohl heute aussuchen?«
»Denken Sie, ich glaube an den ganzen Quatsch?«, zischte Dantalion.
»Ja«, sagte ich gedehnt, »das denke ich.«
»Und was denken Sie darüber?«
Dantalion feuerte auf mich.
Ich hatte keine Schussmöglichkeit und musste zur Seite springen.
Sein erster Schuss ging meilenweit daneben, aber jetzt war er hinter mir her, folgte mir, nahm mich ins Visier.
Jetzt schoss ich. Nicht auf ihn. Trotz meiner Drohung konnte ich auf keinen Fall auf Bradley schießen. Nicht jetzt. Ich schoss so, dass die Kugel über ihre Köpfe hinwegging. Aber es reichte, dass er zusammenzuckte und deshalb sein zweiter Schuss das Ziel ebenfalls verfehlte.
Dann hatte ich mich hinter den Kombi gerettet. Ich wirbelte herum. Grundstellung. Zielen. Schießen. Wie es sich in Hunderten von Ausbildungsstunden in Arrowsake in mein Unterbewusstsein eingeprägt hatte. Meine Kugel traf ihr Ziel. Genau in der Mitte. Aber ich hatte nicht auf Dantalion gezielt, sondern auf Bradley. Die Kevlarweste nahm der Kugel ihre tödliche Durchschlagskraft, aber er kippte nichtsdestotrotz nach hinten weg wie vom Maultier getreten. Er stieß gegen Dantalion, dessen dritter Schuss so abgelenkt wurde.
Es war einer jener Alles-oder-nichts-Momente, in denen alles von einer spontanen Entscheidung abhängt. Ich ließ es darauf ankommen. Er war aus dem Gleichgewicht, und wenn ich ihn angriff, würde er keine Zeit damit verschwenden, Bradley zu erschießen. Er würde seine gesamte Aufmerksamkeit auf mich richten. Ich würde dem Arschloch sofort das Gesicht in Fetzen schießen, wenn er sich hinter Bradleys Schulter zeigte.
Dann geschah etwas, das ich bis heute nicht recht verstehe. Seagram stolperte aus dem Haus und sah aus wie das Opfer in einem Slasher-Film. Die Vorderseite seines Hemds war dunkel eingefärbt vom Blut, es sammelte sich an seinem Hosenbund und sickerte in seine Hose. Er hatte eine schwere Verletzung im unteren Brustbereich. Eine Hand hatte er an den Hals gelegt, auch dort tropfte das Blut. Nicht so stark wie an seiner Brust, aber es war absehbar, dass sich die Verletzungen als tödlich erweisen würden. In seiner anderen Hand hielt er eine Halbautomatik von Heckler & Koch. Sein aschfahles Gesicht war zu einer schmerzverzerrten Maske entstellt. Es gab kein Anzeichen des Wiedererkennens, als er zuerst Bradley und Dantalion und dann mich ansah.
Er hob seine Waffe.
Und zielte damit auf mich.
Er feuerte, aber ich hatte mich schon in Bewegung gesetzt. Das Problem war, dass ich mich zurückziehen musste, deshalb konnte ich mir Dantalion nicht mehr vornehmen.
Seagram sah mich nicht. Nicht als Joe Hunter. Er blickte in den Abgrund, in den er gleich fallen würde und aus dem es kein Zurück gab. Der menschliche Körper ist ein Wunderwerk der Natur. Er kann fürchterliche Verwundungen
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